Immunreaktion

“DON’T THINK OF IT AS DYING”, said Death. “JUST THINK OF IT AS LEAVING EARLY TO AVOID THE RUSH.”
Terry Pratchett, Ein gutes Omen

Wundervolles Wetter. In blühenden Seehäfen wie Venedig werden Schiffe entladen. In Genua und Mailand blüht der Handel. Banken verleihen Geld an Händler und Kaufleute. Schiffe bringen die Waren dieser Händler über das Rote Meer nach Europa. Über die Seidenstraße. Gewürze. Seide. Edelmetalle.
Sie liefern den Tod gleich mit. Der Tod ist ein Meister aus Asien.
Die Pest des Jahres 1347 fegt das Land leer wie das Höllenfeuer, von dem die Kleriker auf ihren Kanzeln gerne sprechen, um die Gläubigen der Gnade Gottes zu versichern. Die sterben trotzdem. Der stäbchenförmige, gram-negative Gott, der bis etwa 1352 über Europa hinwegzieht, wird 1894 in Indien vom französischen Arzt Alexandre Émile Jean Yersin entdeckt, als er das dortige erneute Aufflackern der bis dahin furchtbarsten Seuche untersucht, die die Menschheit je heimgesucht hatte.
Der Erreger Yersinia pestis ist gefunden, einer der großen Triumphe moderner medizinischer Wissenschaften. Erst jetzt sterben empört die letzten Vertreter mittelalterlicher Schamanenüberzeugungen aus, die noch immer nicht recht glauben wollen, daß klitzekleine Dingsbumse, die zu Millionen in Wassertröpfchen leben, irgendwelche Auswirkungen auf menschliches Leben haben sollen.

Im Italien des 14. Jahrhunderts, dem damaligen Resteuropa an kultureller Finesse und Wirtschaftskraft bei Weitem überlegen, kommt der Handel völlig zum Erliegen. Wer nicht an der Pest erkrankt, wird von besseren Hexendoktoren mit Kuhdung eingerieben und stirbt daran, falls er nicht vorher verhungert. Flagellanten ziehen durch die Straßen, religiös verwirrte SM-Anhänger, die sich mit stachelbewehrten Peitschen ihr Fleisch blutig geißeln und barfüßig durch Pfützen laufen, die mindestens zur Hälfte aus Exkrementen bestehen. Denn weder Wasserversorgung noch Kanalisation sind in den blühenden Städten Italiens höher entwickelt als die Hygienestandards heutiger Billigfleischfabrikanten. Umhergewirbelte Tröpfchen aus Schweiß und Blut erweisen sich als hervorragende Methode, um die Seuche weiter zu verbreiten.
Selbst dem Papst wird diese schon immer umstrittene Praktik seiner Glaubensgenossen zuviel. Mit einer Bulle verbietet Clemens VI. im Oktober 1349 die Praxis der öffentlichen Selbstgeißelung als Häresie.
Bereits vorher, im Juli 1348, hatte er in einer anderen Bulle die Juden in Europa vom Verdacht der Brunnenvergiftung freigesprochen, der zu einigen Pogromen und Auslöschung jüdischer Gemeinden geführt hatte. Die Flagellanten waren besonders eifrige Verbreiter dieser Idee gewesen.
Clemens führte als Argumente an, daß auch die Juden an der Pest starben und diese zudem in Gegenden auftrat, in denen gar keine Juden lebten. Seine Anweisungen wurden nicht befolgt. Mit der Bulle Quamvis perfidiam vom September 1349 drohte daraufhin der Papst allen Judenverfolgern die  Exkommunikation an.
Clemens VI. geht auch in die Geschichte ein als der Papst, der den Sommer 1347 in Avignon zwischen zwei gut gefeuerten Kaminen verbringt. Seine Ärzte hatten ihm dazu geraten, denn sie sind der festen Überzeugung, daß Krankheiten durch μίασμα, durch schlechte Luft voller Verunreinigungen, übertragen werden. Die Feuer reinigen die Luft und halten somit Krankheiten fern. Der zur damaligen Zeit in Frankreich residierende Papst folgt dem Rat und überlebt. Vermutlich, weil die Hitze Ratten von ihm fernhält und seine Kleidung keine Läuse enthielt. Immerhin war der Kerl Papst.

An exakt dieser Vorstellung, bereits im 5. Jahrhundert vdZ von einem alten Griechen namens Hippokrates von Kos in die Welt gesetzt, halten noch Zeitgenossen von Yersin fest. Ja, es ist der Hippokrates. Deswegen hielt sich die Vorstellung des antiken Hellenen auch so hartnäckig über die Jahrhunderte. Immerhin hatte der Mann die Grundlagen moderner Medizin erfunden.
Außerdem paßten die Ideen des Hippokrates durchaus zur Beobachtung. Menschen, die im selben Raum mit Kranken waren, wurden krank. Andere nicht. Ergo mußte etwas in der Luft sein, das krank macht. Wenn jetzt im Bus ein Corona-Kranker niest, sind alle anderen sofort tot. Stimmt also. Es liegt was in der Luft.
Hippokrates empfahl auch das Verbrennen von Bekleidung und die Isolation von Kranken von der Öffentlichkeit. Die Pestärzte des 14. Jahrhunderts kennen wir heute noch für ihre Schnabelmasken, unter denen sie einen mit Essig getränkten Schwamm trugen oder irgendwelche duftenden Kräuter, um die eingeatmete Luft zu reinigen.
Dieses Äquivalent der heutigen FFP3-Filtermaske beruhte zwar auf falschen Vorstellungen der Realität, trotzdem verhinderten die Maßnahmen der Quarantäne, die Hippokrates formuliert hatte, in einigen Gegenden den Ausbruch der Pest oder den Tod weiterer Teile der Bevölkerung. Ebenso  führte die Trockenlegung von Sümpfen in Süditalien zum Verschwinden der Malaria. Mal’aria bedeutet nichts anderes als „schlechte Luft”.
In Wirklichkeit führte es natürlich zum Verschwinden der Brutgelegenheiten für Stechmücken, die den Malaria-Erreger Plasmodium mit sich herum- und an Menschen übertragen. Aber vor Erfindung des Lichtmikroskops durch einen Mann namens Antoni van Leeuwenhoek, der aufgrund dessen unschwer als Niederländer zu erkennen ist, konnte niemand in die Welt des Mikrokosmos wirklich hineinsehen. Van Leeuwenhoek war es auch, der 1674 die erste korrekte Beschreibung roter Blutkörperchen lieferte, weil seine mikroskopischen Linsen allem überlegen waren, was man davor oder 150 Jahre danach jemals hergestellt hat.
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Das wahre Morgen

– IV –

Die Trägheit der Masse

»Politics is the entertainment branch of industry.«
Frank Zappa

Die Liste der beliebtesten deutschen Kindernamen wird aktuell von Mia, Emma, Sofia, Ben, Paul und Jonas angeführt. Früher, zu anderen Zeiten, waren es Friedrich, Helga, Hans, Horst und Günter. Aber tatsächlich ist das alles gelogen. Die liebsten Kindernamen der Deutschen sind Volkswagen, Audi, Mercedes, Porsche und BMW.
Das und nichts anderes ist die Wahrheit.

Seitdem ein Herr namens Gottlieb Daimler 1885 den Verbrennungsmotor erfand, ist dieses Ereignis aus der deutschen Geschichte nicht mehr wegzudenken.
Drei Jahre später raffte eine wagemutige Frau ihre Reifröcke zusammen, lud sich selbst nebst ihren zwei Söhnen auf die pferdelose Kutsche, die ihr Mann zusammengezimmert hatte, und ließ diese von Pforzheim nach Mannheim galoppieren. Oder traben, viel mehr war da noch nicht zu erwarten.
Unterwegs mußte sie einmal eine verstopfte Benzinleitung reparieren und ein anderes mal die kaputte Zündung. Hutnadel und Strumpfband halfen da weiter. So steht es geschrieben und ich will es nicht in Zweifel ziehen, obwohl ich mir beileibe nicht vorstellen kann, was ein Strumpfband mit einer Zündung zu tun hat. Auf dem Weg mußte die Dame nachtanken und dazu kaufte sie „Ligroin” in einer Apotheke. So hieß damals das Benzin, denn Ligroin ist Leichtbenzin.
Die Firma ihres Mannes Carl, gegründet mit der vorzeitig ausgezahlten Mitgift von Berta Benz, wäre ohne diese 104 Kilometer lange Fahrt wohl kein Erfolg geworden. Die erste erfolgreiche Fernfahrt räumte dem „Patent-Motorwagen Nr. 3” wie das damalige Flaggschiff des späteren Weltkonzerns Daimler-Benz hieß, den Weg frei. Was Autos angeht, könnte man also durchaus zu recht sagen, daß an allem mal wieder die Frauen schuld sind.

Nach und nach wurden aus zusammengedengelten Tuckermonstern echte Autos, als Entwickler auf die Idee kamen, daß eben eine Kutsche ohne Pferde nicht aussehen muß wie eine mit Pferden.
Ganz allmählich konnte man Benzin auch woanders kaufen als in Apotheken oder im Drogeriefachhandel. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt das 20. Jahrhundert bereits angebrochen. Der Verbrennungsmotor ermöglichte es dem Menschen, sich erstmals gesteuert in die Lüfte zu erheben und war im Ersten Weltkrieg bereits zu einem leistungsfähigen Gerät herangereift. Hatte die modernste Version des Benz-Motorwagens Nr. 3 aus dem letzten Produktionsjahr 1896 bei zwei Litern Hubraum noch drei Pferdestärken, flog der als “Roter Baron” berühmt gewordene Freiherr Manfred von Richthofen im Jahre 1917 mit einem Fokker-Dreidecker Dr. 1 durch die Gegend, der schon satte 110 Pferdestärken aufwies, allerdings auch 15 Liter Hubraum hatte. Das würde sich heute nicht mal mehr der Porschefahrer trauen. Continue reading →

Die Zukunft ist smart

“Es ist erschreckend offensichtlich geworden, daß unsere Technologie unsere Menschlichkeit
überflügelt hat.”
Albert Einstein

Dem Ölland mit den “größten Reserven der Welt” fehlt es an Sprit. So schreibt es die FAZ über Venezuela. Ja, Venezuela, nicht etwa Saudi-Arabien.
So weit dann zu “Reserven”. Oder “Öl”. Erstens ist venezolanisches “Öl” ein fieses Zeug voller Schwefel und relativ zäh. Kein Vergleich mit dem, was früher so aus dem Boden sprudelte, wenn man einen Stock in einen Tümpel im Sumpf gerammt hat. Das war so in den 50er Jahren. Was Venezuela heute fördert, fällt unter “Schwerstöl”. Das heißt nicht umsonst so.
Zweitens muß man eben dieses zähe Zeug gründlich und langwierig raffinieren, um was daraus zu machen. Benzin, beispielsweise. An eben diesen Kapazitäten mangelt es dem Land gewaltig. Das angebliche Ölland muß einen Großteil des Benzins importieren. Voll nützlich, dieses ganze Öl, wenn man keine Raffinerien hat.
Ach ja – drittens hat man die venezolanischen Reserven vermutlich das letzte Mal bewertet, als der Ölpreis bei 115 Dollar lag. Denn “Reserven” bedeutet grob: Alles, was aussieht wie Öl und eventuell ökonomisch ausgebeutet werden kann zu aktuellen Bedingungen. Im Grunde müßten also die “Reserven” von allem – denn das Prinzip gilt für alle Rohstoffe – regelmäßig neu bewertet werden. Die meisten Länder tun das aber nicht. Aus Gründen.

Venezuela gehört zum Beispiel zur OPEC und dieser Laden legt seine Förderquoten fest im Verhältnis zu den Reserven, die ein Land angibt.
Öl, Kohle, Gas, Eisenerz und andere Dinge sind nur dann “Reserven”, wenn sie auch ökonomisch nutzbar sind. Alles andere fällt definitionsmäßig unter “Ressource”. Die großen Ölgesellschaften der Welt haben schon Anfang 2014 und davor dank so horrend teurer Methoden wie Fracking mit Verlusten gearbeitet. Das war vor dem Rückgang der Preise um gute 60 Prozent. Sollte jetzt eine Firma wie – sagen wir mal, Exxon Mobil – gezwungen sein, die eigenen Investitionen neu zu bewerten, dann würde der Wert des gesamten Konzerns um eben diese Prozente sinken. Denn plötzlich wäre mein Öl in den Büchern eben mit realistischen Werten verzeichnet. Das wäre allerdings für börsennotierte Großkonzerne der Energiebranche ziemlich unangenehm. Deshalb verzichtet man großzügig auf derartig kleinliche Bilanzierungsregeln. Immerhin hat man das bei den Großbanken ja auch getan. Wenn man früher miese Papiere ausgelagert hat, um sie dann aus den eigenen Büchern zu streichen und so zu tun, als sei alles tiptop in Ordnung, war das Bilanzbetrug. Heute ist es längst gängige Praxis.

Im Moment fördern sich die größten Ölländer der Welt allesamt in den finanziellen Ruin. Unter anderem natürlich auch Venezuela, denn dieses Land braucht nach verläßlichen Schätzungen einen Ölpreis von etwa 85 Dollar pro Barrel, um profitabel arbeiten zu können. Dieser Preis ist aber seit dem Herbst 2014 nicht mehr existent und auch derzeit nirgendwo in Sicht. Die Wahrscheinlichkeit, daß Venezuela also an den zu niedrigen Ölpreisen stirbt und sich in einen failed state verwandelt, steigt quasi seit gut zweieinhalb Jahren täglich. Wie Griechenland, nur eben mit Öl.
Von irgendwelchen ökologischen Aspekten oder der Tatsache, daß auch Bergbau nicht mit Hamstern betrieben wird, reden wir da mal gar nicht. Prost, Gemeinde! Continue reading →

Blick über den Tellerrand

Nächste Woche ist es soweit. Dann wird Italien über eine Änderung seiner Verfassung abstimmen. Vordergründig geht es darum, die Macht des Senats deutlich einzuschränken, der zweiten Parlamentskammer. Außerdem geht es in dem durchaus komplizierten Entwurf auch noch um solche Dinge wie regionale Zuständigkeiten. Denn in Italien ist die Infrastruktur in einem Zustand, der einem deutschen Ingenieur noch mehr Tränen in die Augen treiben würde als die Lage hierzulande.
In Leverkusen mag man nicht mehr über Rheinbrücken fahren können, wenn das eigene Fahrzeug schwerer als ein Bollerwagen ist. In Italien schaffen es ganze Millionenstädte schon seit Jahren nicht einmal mehr, so etwas wie eine geregelte Müllentsorgung hinzubekommen. Noch besser sind die Städte und Regionen, die derartige Untermehmungen nicht einmal mehr versuchen.
In dieser Stimmung wird also abgestimmt. Ich bin jetzt schon davon überzeugt, daß die wenigsten Italiener wirklich darüber abstimmen wollen, ob sie ihre zweite Parlamentskammer faktisch entmachten wollen.
Aus rein demokratischen Gründen würde ich das bereits für falsch halten, denn irgendwer muß sich irgendwann mal was dabei gedacht haben, darum existiert diese zweite Kammer ja vermutlich. Aber welch schöneres Land könnte es geben, um klarzustellen, daß dauerhafte politische Korruption die Demokratie vernichtet?

Im Vorfeld der Entscheidung haben schon mal die Kurse wichtiger italienischer Banken nachgegeben.
Diese Banken sitzen auf faulen Krediten in Höhe von mindestens dreihundert Milliarden Euro. “Faule Kredite” nennen Banker das Geld, das sie ungeprüft an windige Typen verliehen haben. Geld, das ihnen weder gehört noch im strengen Sinne tatsächlich existiert. Trotzdem ist es dann natürlich Schuld des Kredits, wenn er am Ende womöglich völlig unerwartet nicht zurückgezahlt werden kann. Deswegen ist auch der Kredit faul und nicht etwa der Bankvorstand ein Haufen betrügerischer Geschäftemacher. Wahlweise ist auch irgendwer faul, der den mit diesen Krediten erhofften Profit nicht nachträglich erwirtschaften möchte, nachdem die Banker den schon mal für Koks und Nutten rausgehauen haben. Kapitalismus, fuck yeah. Continue reading →

Das Zerbrechen der Welt

„Jetzt bin ich der Tod geworden, der
Zerstörer von Welten.”
Bhagavad Gita

Strahlender Sonnenschein. Blauer Himmel. Um die 20 Grad. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs an diesem Tag. Dutzende Menschen stehen Schlange vor den Eisdielen. Morgen ist ein Feiertag, viele haben über die Brückentage freigenommen. Ein prächtiges langes Wochenende steht bevor. Deutschland im Frühling. Die Bonner Republik im Frühling, um exakt zu sein, denn es ist das Jahr 1986.

Vier Tage zuvor
Morgens gegen 01:20 befiehlt Chefingenieur Anatoli Stepanowitsch Djatlow, in dieser Nacht in einem Atomkraftwerk in der Sowjetunion der Oberbefehlshaber im Kontrollraum, seinem Schichtleiter, einem Mann namens Alexander Fjodorowitsch Akimow, den seit einiger Zeit angesetzten Sicherheitstest im Block 4 des Kraftwerks programmgemäß durchzuführen. Akimow hat bis dahin bereits mehrfach Bedenken aufgrund des Reaktorzustandes geäußert, der unerklärlich niedrige Leistungswerte aufweist. Djatlow will davon nichts wissen, mit der ihm wohl eigenen Bissigkeit verteidigt er seine Position. Eingebunden in das politische System der Sowjetunion, hat er sich von einem Niemand, der von Daheim weglief, zu einem Nuklearingenieur in angesehener Stellung hochgearbeitet.

Schon die ganze Zeit läuft bei den Vorbereitungen nichts wirklich rund. Erst die niedrige Reaktorleistung, dann sinkt auch noch der Wasserstand in den Dampfabscheidern gefährlich ab, was einen Alarm auslöst. Doch bereits das Anfahren des Tests hätte nicht stattfinden dürfen. Denn dafür ist die Leistungsabgabe zu niedrig und dieser Reaktortyp hat bei unterwertigem Energieausstoß einige Tücken. All das steht irgendwo in den Handbüchern, die aber ignoriert werden. Um mehr Energie zu erzeugen, machen die Ingenieure das, was jede andere Mannschaft auch tut in einem Kernkraftwerk: die Steuerstäbe werden herausgezogen, es fließen mehr Neutronen, die Kettenreaktionen nehmen an Zahl zu. Der Reaktor erhöht seinen Ausstoß.

Was die Bediener im Kontrollzentrum nicht wissen: Der Reaktor leidet in diesem Moment unter dem, was in der Fachsprache Xenonvergiftung heißt. Im Normalbetrieb eines Reaktors entsteht das Produkt 135Iod. Dieses wiederum zerfällt mit einer Halbwertszeit von etwa sieben Stunden in ein anderes radioaktives Isotop, eben 135Xenon. Xenon ist ein Neutronengift, was bedeutet, daß es freie Neutronen einfängt und somit die Reaktionsrate in einem nuklearen Spaltprozeß senkt. Exakt das ist im Vorfeld passiert. Die vorhergehenden Schichten haben den Reaktor weit unter seiner zulässigen Leistung gefahren, im Reaktorkern hat sich zuviel Xenon angesammelt. Bei einem normalen Betrieb hätten sich Erzeugungs- und Zerfallsrate etwa die Waage gehalten, aber das ist nicht der Fall. Eigentlich müßte der Reaktor abgeschaltet werden, bis das überschüssige 135Xenon zerfallen ist.
Stattdessen werden die Steuerstäbe herausgezogen, um die Leistung hochzufahren. Trotzdem sackt die Leistung weiter ab, bis auf etwa 200 Megawatt. Für den geplanten Versuch sind mindestens 700 Megawatt vorgeschrieben.

Djatlow erteilt Anweisung, etwas gegen den Alarm wegen des niedrigen Wasserstands zu unternehmen und ignoriert Akimovs fortgesetzte Bedenken aufgrund der Leistung. Es ist der letzte falsche Befehl, der in dieser Nacht gegeben wird. Akimow und ein Kollege folgen der Anweisung und drehen den Hahn weiter auf, der Reaktorkern wird besser bewässert. Er erreicht aber trotzdem nur zwei Drittel des vorgeschriebenen Pegels. Der Alarm stoppt aber, denn das liegt oberhalb der Warnschwelle.
Dann beginnt der eigentliche Test. Die Bedienmannschaft unterbricht die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern, die Kühlmitteltemperatur beginnt zu steigen, die Zerfallsrate des überschüssigen Xenons erhöht sich.
Die Katastrophe im Inneren der von Menschengeist erdachten und von  Menschenhand gebauten Maschine nimmt ihren Lauf. Die automatische Steuerung versucht, den Leistungsanstieg mit dem Einfahren der Steuerstäbe zu drosseln, ganz nach Programm. Aber sie fährt die Stäbe nur langsam ein, was auch seinen Grund hat.
Doch das reicht nicht. Der Neutronenfluß im Reaktor wird stärker, die Leistung steigt unkontrolliert. Hierdurch erhöht sich die Zerfallsrate des 135Xenon im Reaktorkern weiter, wodurch die bisherige Dämpfung der Reaktion massiv abgebaut wird. Der starke Energieanstieg erzeugt immer mehr Dampfblasen, was wiederum die Kühlung verschlechtert und ebenfalls die Leistungsabgabe erhöht. In diesem Moment ist aus dem Sicherheitstest für den eigentlich recht neuwertigen Kernreaktor bereits eine Katastrophe geworden. Die gezähmte Atomenergie hat sich in ein Monstrum verwandelt, das längst außer Kontrolle ist. Continue reading →

Die Lange Dämmerung

– IV –

Kein Gott in der Maschine

„I have seen the science I worshiped and the aircraft I loved, destroying the civilization that I expected them to serve.”
Charles Lindbergh

Auf dem Gipfel eines Berges stehen ist großartig. Dieser Ausblick! Diese Luft! Diese kühle und dünnere Luft, die mit sinkender Sonne immer kälter wird und die einem klarmacht, daß man sich jetzt besser in Bewegung setzen sollte, möchte man sich nicht sehr bald den Hintern abfrieren.
Also begibt man sich irgendwann wieder an den Abstieg. Nachdem man ausgiebig das Panorama genossen und ein wenig Rast gemacht hat natürlich, denn wozu wäre man schließlich sonst auf den verdammten Berg geklettert?
Was aber völlig egal ist, ist die Himmelsrichtung, die man einschlägt. Denn jedem sollte klar sein, daß es von diesem Punkt aus abwärts geht, wie das Wort Abstieg auch schon leise andeutet. Vom Gipel eines Berges aus gibt es einfach keine andere logische Möglichkeit.

Keine Zivilisation auf der Erde hat einen so gewaltigen Aufstieg hinter sich wie unsere, die technologische globale Zivilisation des beginnenden 21. Jahrhundert ndZ. Das Zeitalter des Anthropozän, also das Zeitalter des Menschen, wird nicht nur so benannt, weil Mensch dieses Zeitalter quasi beherrscht. Die Wissenschaftler, die diese Bezeichnung ins Spiel bringen, sind Geologen und Paläontologen, also der Typ Nerd, der es gewohnt ist, mit sehr großen Zeiträumen umzugehen. Wir reden hier nicht von einer Woche oder einem Jahrhundert. Die Bezeichnung Anthropozän beruht vor allem darauf, daß die Folgen der Anwendung unserer Technologie inzwischen Spuren hinterlassen haben, die noch Jahrtausende lang zu sehen, zu spüren und zu messen sein werden. Seit etwa sechs oder sieben Dekaden setzen wir mehr und mehr Chemikalien und chemische Verbindungen frei, die in dieser Form natürlicherweise nicht vorkommen. Die Trümmer unserer angewandten Wissenschaften überziehen den Planeten inzwischen lückenlos. Das reicht von den Resten der auf Felder gespühten Pestizide oder Herbizide bis hin zu den strahlenden und überaus tödlichen Hinterlassenschaften der Kernspaltung, mit denen wir immer noch nicht wirklich etwas anzufangen wissen. Aller Wahrscheinlichkeit werden wir das auch nie, denn trotz allem müssen sich auch und gerade menschliche Wissenschaften an die Naturgesetze halten. Ein Punkt, der von den Anhängern des Technologie-Glaubens gerne zur Seite geschoben wird. Wie alles andere ist auch technologischer Fortschritt nicht endlos, weder in seinen Möglichkeiten noch seiner Geschwindigkeit, und er unterliegt ebenfalls dem gnadenlosen Gesetz des Abnehmenden Ertrages. Continue reading →

Damokles und die Dinosaurier

„Wachsen im geistigen Sinne bedeutet nicht, größer werden, sondern kleiner werden.”
Sören Kierkegaard

Das Gesetz des abnehmenden Ertrages hängt über unserer Gesellschaft wie das sprichwörtliche Damoklesschwert. Mit dem Unterschied, daß Damokles sich der Gegenwart des Schwertes vollkommen bewußt war, nachdem er auf dessen Anwesenheit höflich aufmerksam gemacht wurde.
In der globalen Industriegesellschaft ist das üblicherweise nicht der Fall. Falls man mal irgendwelchen Leuten sagt: „Hey, guck mal, da oben – ein Schwert!” dann heben die meisten nicht einmal die Köpfe. Denn es könnte ja sein, daß der Sprecher recht hat, und wer möchte schon ein Schwert über seinem Kopf hängen haben?
Es gibt noch eine weitere, sehr weit verbreitete Reaktion, die sich in Sätzen manifestiert wie: „Wo? Ich sehe kein Schwert.”
Ob man den Kopf jetzt erst gar nicht hebt, um hinzusehen, oder das Schwert glatt wegleugnet, ist letztendlich egal. Es ändert nichts an der Tatsache, daß es eben da ist.

Der technologische Fortschritt, wie das so genannt wird, hat seine Kosten, wobei das Wort „Kosten” hierbei mehr als nur finanzielle Aspekte meint, versteht sich. Die von mir angesprochene Externalisierung, die heute in jedem Großkonzern weltweit massiv genutzt wird, bezieht sich in der jeweiligen Bilanz natürlich aufs Finanzielle. Aber die Kosten unseres sogenannten Fortschritts sind in den allermeisten Fällen soziologische Kosten. Die Kernenergie ist dafür ein perfektes Beispiel.

Kaum hatte man entdeckt, daß man Atomkerne überhaupt spalten kann, wurde ein erster Versuchsreaktor gebaut. Nach heutigen Maßstäben ein Laborversuch, den kein Mensch mehr durchführen würde, schon deshalb, weil keine Versicherung der Welt der Universität das erlauben würde und ohne Versicherung würden solche Experimente heute nicht mehr stattfinden. Auf jeden Fall wurde dann aus dem Nachweis der Kernspaltung sehr schnell eine Pilzwolke über zwei japanischen Städten und unzählige weitere über der Südsee, der Wüste Nevadas und Wasweißichnichtstan in der Sowjetunion.
Die zivile Nutzung der Kernkraft, immer wieder als das Non plus ultra angepriesen in den 50er Jahren, erwies sich schnell vor allem als eins: Teuer.
In Deutschland hatten die Energiekonzerne in den 60ern eigentlich nur ein geringes Interesse an Kernenergie, denn schließlich würde man sich damit ja einen riesigen Konkurrenten für die hauseigene Kohle in den Konzern holen. Die Lösung der Regierung war klar, man beschloß, das ganze Kernenergiegeschäft massiv zu subventionieren. Auch hier gab es keine Versicherung, die bereit war, das Risiko der Absicherung eines Kernmeilers auf sich zu nehmen. Also schuf man Ausnahmen in Gesetzen, damit die Dinger trotzdem gebaut werden konnten. Ja, Kernkraftwerke sind üblicherweise nicht versichert, aber man fahre mal mit einem unversicherten Auto durch die Gegend – das gibt Ärger! Continue reading →