Die Vergangenheit der Zukunft

„Eine Revolution ist ein Kampf bis auf den Tod zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.”
Fidel Castro

Mensch war also schon immer neugierig auf das, was vor ihm liegt und allgemein Zukunft genannt wird. Aber erst in den letzten sechs oder sieben Jahrzehnten hält in dieser Beziehung eine gewisse Wissenschaftlichkeit Einzug.
Das hat dazu geführt, daß wir heute recht gut wissen, daß Vögel Priester am Boden ignorieren, weil sie einfach zu beschäftigt sind, sich am Magnetfeld der Erde zu orientieren. Dazu wiederum mußte man natürlich erst einmal darauf kommen, daß die Erde überhaupt eins hat und was zur Hölle ein Magnetfeld eigentlich ist. Dieser Teil der Geschichte fällt ins 19. Jahrhundert und enthält Namen wie Nicola Tesla, Michael Faraday und natürlich James Clerk Maxwell.

Auch von Ritualen an Tieren stammende Einsichten ins Innenleben derselben dienen heutzutage eher dem Tierarzt und dem Gesundheitsministerium als der Zukunftsvorhersage, weil sich Mensch mit steigender wissenschaftlicher Bildung einer Erkenntnis nicht länger verschließen konnte: Zufall existiert einfach. Und er ist zufällig.
Das hat aber trotzdem niemanden davon abgehalten, weiter an die Möglichkeiten einer Zukunftserforschung festzuhalten. Eine dieser Disziplinen begegnet uns so regelmäßig und alltäglich, daß wir sie meistens gar nicht mehr als solche erkennen: Die Wettervorhersage.

Die wohl berühmteste Wettervorhersage der Geschichte – zumindest der neueren Geschichte – ist die eines Mannes, dessen Name weitestgehend in Vergessenheit geraten ist, außer unter Meteorologen natürlich. James Martin Stagg hatte im Jahre 1944 die schwere Aufgabe, den Planungsstab für die Invasion Europas, den berühmten D-Day, mit zuverlässigen Wetterdaten zu versorgen.
Die Geschichte wurde besonders dadurch erschwert, daß natürlich jede beteiligte Truppengattung eigene Vorstellungen vom „idealen Wetter” hatte und außerdem ganz generell Niedrigwasser gefordert war. Niedrigwasser ist nicht das, was man landläufig unter Ebbe versteht, sondern eben noch mehr Ebbe als normale Ebbe. Wissenschaftlich formuliert ist das, was Mr Stagg dem Stab liefern sollte, das Springniedrigwasser oder die lowest astronomical tide bzw. das Seekartennull.
Die LAT wiederum hängt mit den Mondphasen zusammen, oder exakter, um kurz im Wissenschaftlichen zu verweilen, mit der Stellung von Sonne und Mond zur Erde. Die geplante Invasion mußte deshalb bei Neu- oder Vollmond erfolgen.

Wenn das die Astrologen am persischen oder babylonischen Hof gewußt hätten, sie hätten sicherlich zustimmend genickt.

Weiterhin verlangte der Planungsstab eine Wettervorhersage über sage und schreibe sieben Tage, nämlich die vier Tage vor der Invasion, den Invasionstag selbst und die nächsten zwei bis drei Tage. Jeder, der die Zuverlässigkeit heutiger Vorhersagen kennt, kann sich ungefähr ausmalen, was da an Unmöglichem erwartet wurde.
Aber Mr Stagg wagte sich trotzdem an eine Vorhersage, sogar an mehrere. Zum einen sorgte der Wetterdienst nämlich dafür, daß man nicht am 5. Juni loslegte, was wohl am stürmischen Wetter mit reger Dünung gescheitert wäre.
Mr Stagg lehnte sich sehr weit aus dem Fernster, als er behauptete, am 6. Juni 1944 würde es aufklaren, gefolgt von einer kurzen, aber stabilen Wetterperiode mit relativ ruhiger See und brauchbaren Sichtverhältnissen.

Immer die Mondphasen im Hinterkopf behalten und an die nickenden Astrologen denken!

Zukunftsvorhersagen wurden mit Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich moderner, aber ein bißchen Astrologie war immer noch dabei.

Hätten die Alliierten die Invasion verschoben, hätte das nicht Tage, sondern Wochen an Verzögerung bedeutet. Schließlich gelang es Stagg aber, den Stab zu überzeugen, die Lichter wurden auf grün geschaltet, die Invasion fand statt und sie war auch noch erfolgreich.
Das größte Landungsunternehmen in der an Kriegen nicht armen Geschichte der Menschheit wurde ein Erfolg, weil ein Mann den richtigen Riecher hatte!
Und mehr als ein Riecher war es tatsächlich nicht. Eigentlich war Stagg nämlich Experte für das eingangs erwähnte Erdmagnetfeld, kein Meteorologe. Er bekam nur die ganzen Vorhersagen auf den Tisch und mußte daraus etwas destillieren, was man dem Stab vorlegen konnte.
Trotz dieser Mängel könnte man den D-Day als eine erste erfolgreiche Zukunftsvorhersage mittels wissenschaftlicher Methodik bezeichnen.

Der Moment, in dem ich erstmals mit einer wissenschaftlichen Methode in Kontakt kam, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Zukunft zu erkennen, war irgendwann vor ziemlich genau dreißig Jahren. Da habe ich erstmals die „Foundation”-Trilogie von Isaac Asimov gelesen.
Der Held dieser Geschichte ist ein Wissenschaftler, genauer gesagt, ein Mathematiker. Was ihn für mich sehr unsympathisch machte, denn in Mathe war ich niemals der Überflieger. Mathematik wurde mir unsympathisch, als konkrete Zahlen begannen, durch X, Y und noch viel wüstere Symbole ersetzt zu werden.

Dieser Mathematiker allerdings hatte eine komplizierte Methode entwickelt – also eine mit vielen Symbolen – in der es darum ging, die Zukunft der Menschheit vorherzusagen. Seine Vorhersage war, daß das galaxisweite Imperium, das als Hintergrund der Handlung von Asimov geschaffen wurde, dummerweise in einer relativ kurzen Zeitspanne dem Untergang geweiht sei.

Natürlich gefällt diese Vorhersage in der Geschichte dem amtierenden Kaiser nicht sonderlich und seinem Beraterstab noch weniger, denn das Imperium existiert hier bereits seit gut 11 Jahrtausenden. Was eine nicht unerhebliche Zeit ist, wenn man bedenkt, daß hier auf der Erde zu diesem Zeitpunkt gerade der Ackerbau entdeckt worden ist, wenn wir die Uhr mal kurz zurückdrehen.
Auf jeden Fall wird Asimovs Mathematiker zusammen mit seinen Mitverschwörern an den Rand des Imperiums verbannt, eine kleine und unbedeutende Randwelt mit relativ wenig Ressourcen. Von da an beginnt die Sache aber erst so richtig interessant zu werden.
Asimov schuf im Zusammenhang mit seinem Roman, oder besser, den Romanen, den Begriff der „Psychohistorik”, die Möglichkeit der Vorhersage der Zukunft auf Grundlage mathematischer und naturwissenschaftlicher Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten.

In der Heyne-SF-Bibliotheks-Ausgabe der drei Kernromane des Foundation-Zyklus von 1988 hat der amerikanische Statistiker und Mathematiker Michael F. Flynn hierzu den sehr schönen Essay „An introduction to Psychohistory” geschrieben.
Bedauerlicherweise ist der nicht frei verfügbar, ich kann also jedem Interessierten nur raten, sich die entsprechende Buchausgabe der drei Kernromane des Foundation-Zyklus zu besorgen. Und bevor jemand fragt: ich bekomme keine Prozente von irgendwem.
Flynn erklärt hier verschiedene statistische Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen der Natur- und Gesellschaftswissenschaften, die sich auf so unterschiedliche Dinge anwenden lassen wie einen Wirtschaftszyklus – der sprichwörtliche „Schweinezyklus” – die unterschiedliche Verteilung indigener und spanischer Siedlungen in Mittelamerika oder den Aufstieg und Fall von Imperien wie Rom oder China. Klingt trocken, ist es aber nicht wirklich.

Flynn schreibt hier einen schönen Satz, den ich mir einfach mal dreist unter den Nagel reiße:

„Die Komplexität der menschlichen Gesellschaft bedeutet lediglich, daß es schwierig sein könnte, die Gesetze der Geschichte zu entdecken, nicht etwa, daß sie nicht existieren.”

Diesen Gedanken sollte man generell im Hinterkopf behalten, noch mehr als die nickenden Astrologen.

Mathematik und Statistik werden heute überall benutzt, um uns die Zukunft vorherzusagen. So oft, daß wir schon gar nicht mehr hinhören.
Wirtschaftszahlen werden quartalsweise verkündet, nicht etwa für das vergangene, sondern für das zukünftige Quartal. An der Börse, diesem durchgedrehten Affenhaus eines außer Kontrolle geratenen Kapitalismus, werden keine konkreten Zahlen mehr gehandelt, es geht immer nur um Erwartungen. Also die Zukunft.

Verkündet ein Laden wie Microsoft, daß er im letzten Quartal genauso viele Betriebssysteme verkauft habe wie vorher, sagen die Börsenaffen: „Das hatten wir erwartet” und sind zufrieden.
Verkündet Apple, es habe die gleiche Anzahl an iPhones, iPods oder iWasweißich vertickt, sagen die Börsenaffen: „Wir hatten aber mehr erwartet” und die Kurse der Aktie fallen. Witzigerweise könnten die Kurse auch fallen, wenn Apple mehr verkauft hat als im Quartal zuvor – weil irgendwer mehr erwartet hatte.
Was uns zu einem ersten Problem bringt.

Geschichte beruht auf Gesetzen. Wir wissen, daß es sie gibt, aber sie sind schwer zu bestimmen.

Eine Vorhersage jedweder Art kann nur erstellt werden, wenn Dinge in irgendeiner Weise auch Gesetzmäßigkeiten unterliegen, nach denen sie sich verhalten.
Ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß ein Glas Wasser aus meiner Hand nach unten fallen wird, wenn ich die Hand öffne.
Keine Wette mit einem Priester egal welcher Gottheit wird mir diese Gewißheit nehmen. Der Priester betet und setzt auf ein Wunder. Ich bete nicht und vertraue der Gravitation, denn bisher war die immer extrem zuverlässig. Und von dem gewonnenen Geld gehe ich dann nett essen.
Die eben beschriebenen Menschen verhalten sich nicht so. Denn es könnte auch passieren, daß Apples Aktienkurse steigen, wenn mehr iDingsbumse verkauft worden sind. Einfach, weil irgendwer beschließt, damit zufrieden zu sein und das erwartet zu haben.
Ein- und derselbe Parameter führt hier also zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Das ist natürlich für eine rein mathematische Erfassung relativ ungünstig. An dieser Stelle kehre ich noch einmal zurück zum Wetter.

Nachdem der 2. Weltkrieg vorbei war, wurde das mit der Wettervorhersage immer interessanter. Die Möglichkeit, diese Entwicklung im Voraus zu kennen, war einfach zu verlockend, um sie außer acht zu lassen.

Während also in der großen Welt des Kalten Krieges an immer stärkeren Atomwaffen gebastelt wurde und in diesem Zusammenhang auch an immer besseren Raketen statt Bomberflugzeugen, fand woanders eine Entwicklung statt, die von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt verlief, aber nicht weniger wichtig war. Ihren Niederschlag findet diese Entwicklung – wo sonst – in der ScienceFiction-Literatur der damaligen Zeit.

Alles war möglich.
Städte im All würde man errichten, zum Mars fliegen und von dort aus weiter ins All hinaus. Ganze Planetensysteme und Galaxien würden von Menschen besiedelt werden. All das schien so unausweichlich wie eine Vereinigung der Menschheit unter diesen Voraussetzungen.
Die Serie „Star Trek” mit ihrem amerikanischen Cowboy…ähmmm…Captain Kirk, dem pragmatischen Schotten Scotty im Maschinenraum, dem Alien-Logiker Mr. Spock als Wissenschaftsoffizier, der schwarzen Kommunkationsspezialistin Uhura und dem mit schwerem russischen Zungenschlag Witzchen reißenden Pavel Chekov ist wie keine andere eine Ausgeburt dieses Denkens und dieser Zeit.
Eine bemerkenswerte Projektion, befand man sich doch in der Realität in einer in böses Rußland und gutes Amerika geteilten Welt, während im guten Amerika das Zeitalter der Rassentrennung gerade erst zu Ende ging.

Kein guter SF-Roman der 50er und 60er Jahre kam ohne Wetterkontrolle aus. Sei das nun über einer Siedlerwelt in irgendeinem Sonnensystem oder über Kaitain, dem Sitz des Imperators des bekannten Universums. Auch die epische Geschichte des Wüstenplaneten von Frank Herbert konnte sich hier nicht von ihrer Entstehungsepoche lösen, so fremdartig, surreal und großartig der Weltentwurf von Herbert insgesamt auch ist. Ach ja, natürlich hatten damals selbstverständlich auch alle Raumschiffe auf den Umschlägen von Magazinen wie „Astounding”, und wie sie alle hießen, Heckflossen.
Denn die 50er Jahre waren eben all about Heckflossen, wie sonst soll man die damaligen Autos beschreiben?
Also gingen die Autoren davon aus, daß diese Heckflossigkeit der Dinge zweifellos auch Bestandteil der Zukunft sein würde.

Zukunft findet immer auch im Kopf statt. Dann wird sie aber oft Wunschdenken.

Selbst die eher pragmatischen Ingenieure der Autobauer gingen von Dingen aus, die sie eben für wahrscheinlich hielten. So entwarf Ford 1958 das Modell Ford Nucleon, der, wie der Name schon sagt, nicht mehr von primitiven fossilen Brennstoffen angetrieben sein sollte, sondern von einem schuhkartongroßen Atomreaktor an seiner Hinterachse.
Das Allheilmittel der nuklearen Energie war halt ebenso populär wie Heckflossen – die hatte der Nucleon übrigens auch, versteht sich.
Computerspieler würden das Fahrzeug möglicherweise wiedererkennen, zumindest wenn sie Fallout gespielt haben.

Hier zeichnet sich also ein weiteres Problem ab.

Sehr oft versuchen Menschen, die Zukunft vorherzusagen, indem sie die Gegenwart einfach ins Unendliche verlängern. Oder sie nehmen ihre aktuellen Wünsche für die Zukunft, die meist natürlich auf den Problemen der jeweiligen Gegenwart beruhen, und projizieren diese Wünsche dann auf eben diese Zukunft, eine Art Zirkelschluß mit Selbsttäuschung.
In den allermeisten Fällen geht das spektakulär schief. Heute schraubt niemand mehr Heckflossen an Autos und kein ernstzunehmender SF-Schreiber läßt über seinen Planeten Satelliten zur Wetterkontrolle kreisen. Dafür dreht sich heute alles um Künstliche Intelligenz, Nano-Technologie und Mensch-Maschine-Interfaces. Die Borg lassen grüßen.

Ein weiterer Bereich der Zukunftsschau sind heute Wirtschaftsprognosen.
Auch an diese hat man sich gewöhnt, denn sie werden fast genauso oft verkündet wie Horoskope. Da wird im Frühjahr vorhergesagt, wie sich die Wirtschaft über das Jahr entwickeln wird, dann wird im Herbst nachgeschaut, man stellt fest, daß man sich wieder einmal spektakulär verhauen hat, um dann wohlgemut die nächste Prognose zu erstellen.
Irgendwer hat einmal festgestellt, daß das Expertengremium in Deutschland, das immer diese lustige Frühjahrs- und Herbstprognose erstellt, eigentlich rein statistisch in den letzten vierzig Jahren mindestens einmal so richtig richtig hätte liegen müssen. Hat es aber nicht, die Superexperten der Wirtschaftswissenschaften lagen immer falsch.

Nicht das Erstellen einer Prognose ist das Problem, sondern die Verläßlichkeit.

Das hält aber deutsche Medien nicht davon ab, jedes Mal eine hysterisch kreischende Wasserstandsmeldung zu bringen, wenn der DAX mal wieder über 10- oder 11- oder wasauchimmer-tausend Punkte springt.
Auch Meldungen über den sogenannten IFO-Index sind sehr beliebt. Sagt dieser Index, es geht der deutschen Wirtschaft gut, steht unmittelbar darunter ein Verweis auf einen Artikel, in dem es um die sinkende Wirtschaftsleistung geht oder die schlechten Exportaussichten.
Sagt der Index, es geht der deutschen Wirtschaft schlecht, findet man unweigerlich einen Artikel darunter, in dem deutsche Firmen ihre gestiegenen Umsätze bejubeln. Wahlweise auch eine Eilmeldung, in der DAX gerade mal wieder über irgendwas drübergestiegen ist.

Diese Zukunftsvorhersagen haben in etwa also dieselbe Verläßlichkeit wie ein betrunkener Zugvogel, dem der Priester von unten auf die Flügel starrt. Ihr Unterhaltungswert ist allerdings bedeutend höher.

Was uns zu einem weiteren Problem bringt: Manchmal tun Menschen so, als wäre irgendetwas wissenschaftlich, dabei ist es das gar nicht.
Und manchmal richten sich die Augen und die Aufmerksamkeit auf Dinge, die eigentlich völlig unwichtig sind und mit dem Kern des Problems, das man vielleicht lösen möchte, gar nicht wirklich etwas zu tun haben.

Um sich also Gedanken über die Zukunft machen zu können, die wirklich ein ernstzunehmendes Ergebnis erbringen, muß man sich dieser Probleme immer bewußt sein.

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