Das wahre Morgen

– II –

Das Summen von Bienen

„Die Vergangenheit ist passé, Darling.
Sie lenkt von der Gegenwart ab.“
Edna Mode

Das auf entsprechenden Festivitäten präsentierte Mittelalter macht auf mich in etwa denselben Eindruck wie Pornographie: Soll geil machen auf die Sache, aber kein Mensch mit mehr als drei Hirnzellen kann das für das echte Leben halten.
Alle reden in diesem Zusammenhang immer von Frauen-Diskriminierung. Das Männer reine Muskelberge sind, die möglichst lange den Ständer hochhalten müssen, damit sich die jeweilige Dame entsprechend in Szene rücken kann – oder die Szenen – wird von feministischer Seite seltsamerweise nie kritisiert.
Trotz dieser offensichtlichen Diskrepanz zwischen Realität und Fiktion haben Pornos meines Wissens großen Zulauf. Ein Drittel des Netzwerkverkehrs im Internet besteht aus pornographischen Inhalten, schätzt man in diversen Studien. Was dem Wort „Verkehr“ eine quasi völlig neue Bedeutung gibt. Man könnte auch sagen, das Internet wäre nicht das, was es heute ist, gäbe es keine Pornographie. Und damit wäre auch unsere Welt nicht so, was sie heute ist. Manchmal haben Wirkungen Ursachen, an die alle, die davon profitieren, nicht erinnert werden möchten.

Im Grunde ist das auf Burgfesten oder anderswo präsentierte Mittelalter sogar noch schlimmer. Es ist Softporno. Die Dinge, die wirklich interessant sind, werden also nur angedeutet, nicht wirklich gezeigt.
Eine Art romantischer Wiedererweckung einer Zeit, die so weit zurückliegt, daß niemand ohne Expertenwissen genau sagen kann, ob diese Interpretation, die sich hier vor meinen Augen abspielt, nicht doch der Realität entspricht oder einmal entsprochen hat.

Die Kräuterfrau beispielsweise kann auf ihren Führungen mit profundem Fachwissen aufwarten, da hilft mir das eigene Biologiestudium weiter. Welche Kombination von Pflanzen sich wie auf welches Befinden auswirkt, meist unter Hinzufügen von Alkohol, ist eine Wissenschaft für sich. Nur wurde die Wissenschaft eben erst später erfunden. Vor zweitausend Jahren wurde dieses gesammelte Wissen von Druidenmund zu Druidenohr weitergegeben, wie wir aus Asterix wissen. Das kommt davon, wenn man keine Schriftkultur hat.
Wenn man dann eine entwickelt, kratzen Menschen Rezepte für Tränke und Tinkturen und anderes Zeug auf Pergament. Dazu braucht es übrigens Tinte. Diese wiederum ist eine Erfindung, die irgendwann im 4. Jahrtausend vdZ gemacht wurde und damals aus Ruß bestand, vermischt mit Gummi arabicum, also dem Harz diverser Baumarten. Dieses Zeug ist kein Verwandter des umgangssprachlichen Gummis, denn das ist Naturkautschuk, also abgezapfter Baumsaft von Hevea brasiliensis, dem Kautschukbaum, dessen ursprüngliche Heimat in Brasilien liegt, wie der Name zart andeutet.
Irgendwann im 3. Jahrhundert ndZ kam jemand auf die Idee, Galläpfel auszukochen. Wer wie ich als Kind noch Nahkampfkontakt mit Bäumen hatte, kennt diese Dinger. Mittelgroße, grünbraune Schwellungen an Blättern, Rinde oder Zweigen von Eichen. Die wiederum sind die Folge von Stichen der Eichengallwespe, die im Herbst ihre Eier in diesen Pflanzen ablegt, was als Abwehrreaktion zur Bildung der Gallen führt. Und in denen wächst dann die Brut ungestört heran. Beim Rumklettern im Wald hängt man früher oder später an einem Ast, an dem es diese Beulen gibt.
Wenn man diese Dinger sammelt, zerstampft und zerkocht, entsteht Gallussäure. Dazu gibt man Eisenvitriol. Rein chemisch ist das Eisen(II)-Sulfat und das wiederum gewann man, indem man pulverisiertes Eisen in zwanzigprozentiger Schwefelsäure aufkocht. Vermischt mit Wasser und dem Gummi Arabicum – das im Gegensatz zum Latex wasserlöslich ist – entsteht das, was man über Jahrhunderte als Dokumententinte benutzt hat. Das Wort „Kanzleitinte“ spricht für die juristische Festigkeit des Stoffs. Continue reading →

Die Schultern von Riesen

Das wohl größte Problem der Kommunikation ist die Illusion, daß sie tatsächlich stattgefunden hätte.

George Bernard Shaw

Der Mann, mit dem diese Geschichte beginnt, hat niemals eine Schule in unserem Sinne besucht. Er ist der Sohn eines Apothekers und wird zu einer Zeit geboren, in der so etwas wie eine Schulpflicht noch in der Zukunft seines Landes wartet, daher wird er von Hauslehrern unterrichtet oder wer eben damals so für diese Tätigkeit herhalten mußte.
Trotzdem beginnt er, sich mit etwa zwölf Jahren für wissenschaftliche Dinge zu interessieren. Oder vielleicht auch gerade deshalb.
Mit gerade einmal sechzehn bewältigt er die Aufnahmeprüfung zur Universität, mit zweiundzwanzig wird er Doktor der Naturwissenschaften. Er heiratet spät, erst mit Mitte dreißig. Als er bereits Ende fünfzig ist, ermutigt er einen achtundzwanzig Jahre jüngeren guten Freund, seine schriftstellerischen Ambitionen auch zu veröffentlichen und unterstützt ihn hierbei nach Kräften.
Der Schriftsteller ist Hans Christian Andersen, seine „Märchen, für Kinder erzählt“ machen ihn berühmt und verwandeln ihn in eine Meerjungfrau, die heute noch im Hafen Kopenhagens zu bewundern ist.

Erstaunlicherweise ist auch der andere Mann kein Grieche, wie sie ja schon öfter von mir erwähnt wurden, sondern, wie Andersen auch, ein Däne, also Angehöriger eines Volkes, das dem O immer einen Strich durch die Rechnung macht. Sein Name ist Hans Christian Ørsted und der ist heute ein eigener kleiner Park in der dänischen Hauptstadt.
Ørsted beobachtete während einer Vorlesung im Jahre 1820, wie eine Kompaßnadel von einem Draht abgelenkt wurde, durch den gerade ein Strom floß. Mit seinem im wahrsten Sinne des Wortes ungeschulten, aber eben sehr neugierigem Verstand runzelte der Herr Anfang Vierzig die Stirn und sagte sich vermutlich, dies sei ja wohl etwas seltsam. Aber das Ereignis ließ sich reproduzieren. Strom durch Draht ergab Ablenkung des Kompasses. Kein Stromfluß ergab einen langweiligen Kompaß, der bekanntlich stets nach Norden weist auf unserem Planeten. Jedenfalls halbwegs, aber dazu später.
Was Ørsted da entdeckt hatte, war das Prinzip des Elektromagnetismus. Ein Strom, der einen Leiter durchfließt, erzeugt ein Magnetfeld. Er war nicht der erste, dem das aufgefallen war, aber er war der erste, der seine Erkenntnisse veröffentlichte und damit auch Gehör fand. So ist das eben, wenn man schon ein bißchen bekannter ist und auf die Publikationsmöglichkeiten der etablierten Wissenschaften zurückgreifen kann. Diese Entdeckung sollte noch eine Menge Aufregung verursachen. Im Grunde genommen hat sie die Welt verändert. Continue reading →

Mythopolis

– IX –

Das Knirschen von Sand

„Ihr glaubt bereitwillig an alles Unsichtbare. Aber was euch direkt ins Gesicht springt, wollt ihr nicht sehen. Es gibt dafür eine wissenschaftliche Erklärung:
Ihr seid doof.“
Doctor Who

Nicht immer sind negative Seiten der technologischen Entwicklung so offensichtlich wie bei der Verwendung von Kernenergie, deren Rückbau und Ende den Steuerzahler mindestens soviel Geld kosten werden wie die ganzen staatlichen Subventionen, die in den letzten 45 Jahren an diesen Industriezweig geflossen sind. Trotzdem gibt es immer noch Menschen, die die Mär vom billigen Atomstrom papageienmäßig wiederholen. Weil sie daran glauben wollen. Denn ansonsten müßten sie sich eingestehen, jahrzehntelang wie die Idioten an eine Lüge geglaubt zu haben. Menschen tun so etwas sehr ungern.
Stattdessen glaubt man lieber weiter an die Dinge, die man kennt und die einem von den Priestern der Fortschrittsreligion so angepriesen werden.
Deswegen heißen Priester eben so, zumindest vermute ich das. Weil sie anpreisen, was der jeweilige Gott so alles drauf hat und was für ein toller Hecht er doch ist. Oder was für eine zarte Forelle, falls es sich um eine Göttin handeln sollte. Die Religion von Fortschritt und Technologie bringt auch besonders sehenswerte technologische Tempel hervor. Außerdem natürlich „Wunder“, die sehr wohl funktionieren. Zumindest für eine Weile. Wenn das Wartungsbudget nicht gekürzt wird. Oder die Garantie abgelaufen ist.
Gute Werbung ist also offenbar sehr nützlich, wenn man anderen etwas als unverzichtbar und besonders großartige Errungenschaft verkaufen möchte. Wenn es dann auch noch einen handfesten Charakter hat, also ein irgendwie greifbares Dingsbums ist, werden die Kriterien schon etwas klarer. Wenn man Menschen heute fragt, worauf sie nicht mehr verzichten können im Alltag – die berühmte „einsame Insel“-Frage, bekommt man in den Antworten eine Auflistung von allem möglichen Mist geliefert, der nicht den geringsten Wert hat. Ich würde auf die einsame Insel jedenfalls eher eine Axt mitnehmen als ein Smartphone.

„Technologie“ oder – in meinen Begriffen hier in diesem Blog – die genaue Ausformung der Technosphäre ist immer auch eine Entscheidung der Gesellschaft.
Zumindest wird uns das eingeredet. In Wahrheit funken einem die Kräfte der viel gepriesenen freien Marktwirtschaft natürlich ständig dazwischen.
Es gab nie eine Entscheidung der Gesellschaft für die vorgeblich zivile Nutzung der Kernenergie. Es gab eine politische Entscheidung, denn mit Reaktoren hat man die Hand eben auch irgendwo immer auf dem Stoff, aus dem die Bomben sind. Die Tatsache, daß Nationen wie Japan oder Deutschland über keine eigenen A-Waffen verfügen, ist ja nun nicht etwa technologischem Unvermögen geschuldet, sondern der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Der freie Markt ist an solchen Stellen also normalerweise eben kein Markt. Und frei ist er auch nicht, denn der freie Markt ist auch einer dieser Mythen, an die unsere Gesellschaft so gerne glauben möchte. Er funktioniert hier schlicht kommandowirtschaftlich. Hitler konnte in Hydrierwerken aus Braun- und Steinkohle Sprit für Flugzeuge und Panzer gewinnen lassen, weil es geht. Nicht etwa, weil das Verfahren ökonomisch Sinn ergibt. Es ist nämlich bei weitem zu teuer. Würde man Benzin heute aus deutscher Steinkohle herstellen wollen, kostete der Liter Sprit vermutlich irgendwas um die acht Euro. Dann mal Prost.
Mit Atomkraft war es ähnlich. Die Franzosen reihten sich als Atommacht Nr. 4 in den Reigen ein, weil Charles de Gaulle die Bombe haben wollte und dazu brauchte man eigene Reaktoren. Da die Kolonialgebiete Uran liefern konnten, hat man die Reaktoren gebaut. Darum hat Deutschland auch keine eigenen Bomben, denn damit konnte Frankreich sicher sein, nicht noch einmal von deutschen Truppen überfallen zu werden. Deutschland hätte wiederum auch gerne die Bombe gehabt, Old Adenauer war jedenfalls sehr dafür, soweit ich das weiß. Nur gab es eben keine. Dafür stehen die Franzosen heute da und erzeugen siebzig Prozent ihrer Elektrizität aus Kernmeilern. Da fragt sich nur noch, wem zuerst das Licht ausgeht. Uns oder den westlichen Nachbarn. Sollte einer der Schrottmeiler an der deutschen Grenze wie Cattenom vorher noch platzen, werden womöglich doch deutsche Truppen noch einmal Frankreich überfallen. Wer weiß? Continue reading →

Die Lange Dämmerung

– IV –

Kein Gott in der Maschine

„I have seen the science I worshiped and the aircraft I loved, destroying the civilization that I expected them to serve.“
Charles Lindbergh

Auf dem Gipfel eines Berges stehen ist großartig. Dieser Ausblick! Diese Luft! Diese kühle und dünnere Luft, die mit sinkender Sonne immer kälter wird und die einem klarmacht, daß man sich jetzt besser in Bewegung setzen sollte, möchte man sich nicht sehr bald den Hintern abfrieren.
Also begibt man sich irgendwann wieder an den Abstieg. Nachdem man ausgiebig das Panorama genossen und ein wenig Rast gemacht hat natürlich, denn wozu wäre man schließlich sonst auf den verdammten Berg geklettert?
Was aber völlig egal ist, ist die Himmelsrichtung, die man einschlägt. Denn jedem sollte klar sein, daß es von diesem Punkt aus abwärts geht, wie das Wort Abstieg auch schon leise andeutet. Vom Gipel eines Berges aus gibt es einfach keine andere logische Möglichkeit.

Keine Zivilisation auf der Erde hat einen so gewaltigen Aufstieg hinter sich wie unsere, die technologische globale Zivilisation des beginnenden 21. Jahrhundert ndZ. Das Zeitalter des Anthropozän, also das Zeitalter des Menschen, wird nicht nur so benannt, weil Mensch dieses Zeitalter quasi beherrscht. Die Wissenschaftler, die diese Bezeichnung ins Spiel bringen, sind Geologen und Paläontologen, also der Typ Nerd, der es gewohnt ist, mit sehr großen Zeiträumen umzugehen. Wir reden hier nicht von einer Woche oder einem Jahrhundert. Die Bezeichnung Anthropozän beruht vor allem darauf, daß die Folgen der Anwendung unserer Technologie inzwischen Spuren hinterlassen haben, die noch Jahrtausende lang zu sehen, zu spüren und zu messen sein werden. Seit etwa sechs oder sieben Dekaden setzen wir mehr und mehr Chemikalien und chemische Verbindungen frei, die in dieser Form natürlicherweise nicht vorkommen. Die Trümmer unserer angewandten Wissenschaften überziehen den Planeten inzwischen lückenlos. Das reicht von den Resten der auf Felder gespühten Pestizide oder Herbizide bis hin zu den strahlenden und überaus tödlichen Hinterlassenschaften der Kernspaltung, mit denen wir immer noch nicht wirklich etwas anzufangen wissen. Aller Wahrscheinlichkeit werden wir das auch nie, denn trotz allem müssen sich auch und gerade menschliche Wissenschaften an die Naturgesetze halten. Ein Punkt, der von den Anhängern des Technologie-Glaubens gerne zur Seite geschoben wird. Wie alles andere ist auch technologischer Fortschritt nicht endlos, weder in seinen Möglichkeiten noch seiner Geschwindigkeit, und er unterliegt ebenfalls dem gnadenlosen Gesetz des Abnehmenden Ertrages. Continue reading →