– I –
Die neue Zeit
„Wer hat an der Uhr gedreht?
Ist es wirklich schon so spät?“
Paulchen Panther
Erde, Beginn des 16. Jahrhunderts ndZ. Ein Mann namens Peter Henlein verbindet in Nürnberg den Federantrieb mit einer sogenannten Federbremse und baut das ganze Konstrukt in ein Gehäuse ein, das klein genug ist, um in eine Tasche gesteckt zu werden. Die erste echte Taschenuhr hat das Licht der Welt erblickt. Wenn sie nicht in der dunklen Tasche verschwindet, natürlich.
Das Werk ist noch immer recht ungenau, die Uhr erhält deswegen nur einen Stundenzeiger. Erst deutlich später, etwa anderthalb Jahrhunderte nach Henlein, um genau zu sein, wird die Spindelhemmung in Uhren eingebaut und diese erhalten einen Minutenzeiger, da sie sich jetzt nicht mehr dafür schämen müssen, einen zu haben.
Mit der weiteren Entwicklung werden die neuen Zeitmesser genauer, kleiner, flacher und die Uhrmacherkunst zu einem Beruf, der dem des Neurochirurgen an nötiger Präzision in nichts nachsteht. 1600 ndZ setzt der spanische König einen Preis für denjenigen aus, der eine Uhr erfindet, mit der man das Längenproblem lösen kann. Was heutzutage keinerlei Problem darstellt, war nämlich zu der Zeit sehr wohl eines.
Für die Bestimmung der exakten Position auf der Erdoberfläche benötigt man den Breiten- und Längengrad. Die Bestimmung der Breite erfolgt bereits seit langer Zeit über den Polarstern. Bei den Griechen hieß der Stern Phoenice, was wiederum „der Phönizische“ bedeutet, also noch weiter in die Vergangenheit weist. Astronomisch ist das α Ursae Minoris und ein Trinär-System aus einer F7 Ib, einer F6 V und einer F3 V – das sind die Spektralklassen dieser Sterne. Unsere Sonne sieht daneben etwa wie das Streichholz vor dem Waldbrand aus. Oder vor dem Plasmaschweißbrenner.
Das Sternbild selbst ist der Kleine Bär, im Deutschen ist das der Kleine Wagen. Wir Deutschen hatten es ja schon immer mehr mit Autos als mit Bären, deswegen finden wir die am Himmel leichter. Im Gegensatz zu manchen Geschichten, die mir schon zu Ohren gekommen sind, findet man Polaris nicht, indem man die Achse des Großen Wagens verlängert, sondern das Hinterteil, also sozusagen den Kasten des Wagens.
Wenn man den Abstand zwischen den beiden hinteren Sternen am Großen Wagen um das etwa Fünffache nach „oben“ verlängert, landet man beim Polarstern. Um Fehler zu vermeiden, sollte man einmal kurz hinschauen, ob sich um diesen hellen Punkt noch andere befinden. Wenn ober- und unterhalb nichts ist, hat man den richtigen gefunden. Ansonsten hat man vermutlich die Deichsel des Kleinen Wagens an einer anderen Stelle erwischt.
Heutige Astronomen mogeln natürlich, die richten einfach große Kameras auf den Himmel und lassen die lange belichtete Fotos machen. Der Stern, dessen Bewegung keinen Kreis auf das Bild zeichnet, ist der Polarstern. Der wiederum steht am Äquator über dem Horizont, in unseren Breiten – wie man so sagt – rückt er immer näher zum Zenit des Himmels auf. Die Winkelhöhe dieses Sterns, um den sich alle anderen am Himmel zu drehen scheinen, gibt einem den Breitengrad an und diese Winkelhöhe ließ sich schon vor Urzeiten recht zuverlässig messen. Nicht zu verwechseln mit den Uhrzeiten, um die es im Folgenden gehen soll.
Zur Bestimmung des Längengrads jedoch benötigt man die exakte Zeit eines Ortes, dessen Länge man kennt. Oder anders gesagt: Man braucht eine Uhr, die auch auf See, an Deck eines schaukelnden Schiffes, eine möglichst hohe Genauigkeit aufweist. Derartige Uhren gab es lange Zeit nicht.
Anfang des 18. Jahrhunderts lief ein britischer Admiral mit seiner Flotte auf eine Inselgruppe auf, als er gerade von einer siegreichen Schlacht fröhlich pfeifend heimsegelte. Aus der Heimkehr wurde nichts, der Admiral ging mit seinem Schiff unter, drei weitere seiner Flotte folgten ihm. Das war für den toten Admiral um so ärgerlicher, als er auf die Scilly-Inseln aufgelaufen war, die etwa 25 Seemeilen südwestlich von Land’s End liegen, das ist die allersüdwestlichste Spitze von England. Die Gruppe aus Steinhaufen und Riffen markiert den Eingang zum Ärmelkanal. Der Admiral ging also in Sichtweite des Heimathafens unter, wenn man so will, überaus peinliche Sache.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren in Paris, St. Petersburg – damals die Hauptstadt Rußlands – und London königliche Sternwarten gegründet worden, die sich vor allem dem Längengradproblem widmen sollten. Denn die Sache war auch wirtschaftlich sehr störend. Es war üblich, daß auch geübte Kapitäne eben so lange rumsegelten, bis sie auf einem bestimmten Breitengrad waren und diesen dann absegelten, um einen bestimmten Ort zu finden, der ausgerechnet mitten im Wasser liegen mußte.
Das ist ein bißchen wie meine frühere Methode beim Autofahren in fremden Städten: Man frage nicht nach Straßen, sondern nach Gebäuden, die womöglich in der Nähe der begehrten Zieladresse liegen. Kirchen zum Beispiel sind immer gut. Der lokale Bahnhof. Stadthallen. Örtliche Sehenswürdigkeiten wie das Dingsbums-Schloß oder so etwas in der Art. Die Universität, wenn es eine gibt.
Mit der dann folgenden Einkreisungsmethode findet man auch in völlig fremden Städten recht zuverlässig völlig unbekannte Orte. Wie man sieht, entstamme ich einem Zeitalter, in dem Orientierung noch analog erfolgte.
Die Methode funktioniert allerdings nur gut, weil jemand vorher schon irgendwelche Schilder aufgestellt hat, die mich auch auf den örtlichen Bahnhof/die Kirche/das Schloß hinweisen. Fehlen diese Hinweise, wird es mühselig.
Ebenso ging es den Kapitänen der stolzen britischen Marine, wenn sie in der Karibik gerade mal wieder die verdammte Insel suchten, die ja irgendwo sein mußte, schließlich war sie neulich noch da gewesen. Ich stelle mir immer als Helden verehrte Leute wie einen Lord Nelson vor, die dann auf hoher See das Fenster runterkurbeln und den zufällig vorbeikommenden Eingeborenen-Katamaran fragen, wo denn jetzt wieder Hispaniola liegt, man müsse da ein paar spanische Schiffe versenken.
Von der peinlichen Panne des Admirals aufgeschreckt und gedrängt von solchen Menschen wie Isaac Newton und Edmond Halley, setzte das englische Parlament dann 1714 die Summe von 20.000 Pfund für eine brauchbare Lösung des Längengradproblems aus. Natürlich stand hier auch schon damals ein Sternchen hintendran und was Kleingedrucktes – die volle Summe gab es nur bei einer maximalen Abweichung von einem halben Grad bei der Messung. Bei einem Grad sollten aber immerhin noch 10.000 Pfund gezahlt werden. In einer Zeit, in der ein Arbeiter von 10 Pfund im Jahr lebte und man für 2.000 Pfund der Admiralität ein neues Schiff kaufen konnte, ein nicht unerhebliches Sümmchen. Das würde heute dem Preis für ein bis zwei Stealth-Bomber mit allen Extras entsprechen oder mehreren Jahresgehältern eines Herrn Winterkorn.
Dazu waren aber exakte Uhren erforderlich. Wie exakt?
Präzision auf drei Dezimale ist erforderlich für erfolgreiche Navigation auf See
Steht die Sonne über meinem Schiff im Zenit, ist es Mittag. Zeigt die Vergleichsuhr, auf der man an Bord die Zeit des „Null-Ortes“ mit sich führt, jetzt 15:30, sind das 3,5 Stunden Differenz, die man durch die 24 Stunden des Tages teilt. Das ergibt dann 0,14. Multipliziert man das mit 360°, also dem Kreisumfang, erhält man als Ergebnis 50,4° Länge. Was doof ist, denn das gewünschte Ergebnis hier wären 52,5° gewesen. Der Fehler entsteht, weil ich das erste Ergebnis von 0,145 abgerundet habe. Multipliziere ich auf drei Stellen mit 360, ergibt das 52,2° Länge, was bereits wesentlich präziser ist.
Die kleine Beispielrechnung zeigt, daß man bei der Längengradbestimmung mindestens mal die dritte Dezimalstelle braucht, sonst findet man womöglich eine Insel wie Kuba, aber an den Azoren segelt man sauber vorbei. Der Nicht-Seefahrer denkt sich: „Das sieht man doch, Mensch!“
Aber der nicht mit besonderem Orientierungssinn ausgestattete Blogschreiber weiß: Der Horizont liegt auf einem Planeten wie der Erde etwa 50 Kilometer vom Auge des jeweiligen Betrachters entfernt. Haue ich beim Rechnen um ein Grad daneben, entspricht das am Äquator etwa 60 Seemeilen oder 111 Kilometern. Lasse ich die dritte Dezimalstelle weg, sind es schnell mal über 2 Grad Fehler und somit deutlich über 200 Kilometer. Da kann ich mit einem Schiff glatt zwischen den Azoren durchfahren und keine einzige Insel sehen, so hoch kann man das Krähennest auf einem Schiff gar nicht bauen.
Schließlich errang ein Mann den Ruhm, das Problem um die Sekunden und Minuten der Längengrade gelöst zu haben. Als das Parlament seinen Preis aussetzte, galten Uhren mit einer Abweichung von weniger als einer Minute pro Tag als nicht realisierbar. Aus dem kleinen Beispiel, das ich eben anführte, geht aber klar hervor, daß man eben Uhren brauchte, die auf die Sekunde genau gehen mußten. An Bord eines Schiffes, das nun einmal kein Wohnzimmer ist und entsprechend unruhig sein kann, ein schwieriges Unterfangen, immerhin gibt es normalerweise keinen Ozean ohne Wellen. Außerdem bestehen die Teile von Uhren aus Metall und wenn ein Schiff vom kühlen England aus in tropische Regionen segelt, gibt es da erhebliche Unterschiede bei Sachen wie Luftfeuchte und Temperatur.
Der geniale Bastler, der schließlich die richtige Uhr erfand, quasi die Ur-Uhr aller präzisen Zeitmesser, hieß John Harrison.
Er erfand diverse Dinge, die lustige Namen haben, wie die Grashopper-Hemmung und andere Tricks, die seinen Uhren helfen sollten, besser zu sein als der Rest. Was auch schließlich gelang. Nach Jahrzehnten des Bastelns, Korrigierens, Entwerfens, Tüftelns, Schleifens und Berechnens erfand dieser Mann 1753 sein Modell H4. Wie man dem Namen entnehmen kann, hatte es Vorgänger, die aber allesamt nach offiziellem Urteil nicht die Voraussetzungen erfüllten, um den Preis zu bekommen. Allerdings waren Harrisons Modelle allesamt besser als die Uhren irgendwelcher Konkurrenten. Das Problem war nur: Harrison war kein Uhrmacher, er war eigentlich gelernter Tischler.
Das Gremium, das über die Erfüllung oder Nichterfüllung der Bedingungen zu entscheiden hatte, war aber selbstverständlich mit Gelehrten und Beamten besetzt, die Harrison allein wegen seiner Herkunft nicht zutrauten, das Problem zu lösen.
Ganz besonders da ein Mann, der Mitglied der Kommission war, eine eigene Theorie über die Längengradbestimmung entwickelt hatte und selbstverständlich der festen Überzeugung war, daß er die Kohle einsacken mußte. Immerhin war man ja mit dem Silberlöffel im Munde geboren worden, das machte einen schließlich automatisch besser, schöner und schlauer als andere Menschen.
Die Rolle des Darth Vader in diesem Lehrstück akademischer Ignoranz fällt also Sir Nevil Maskelyne zu, der den Erfolg dieses impertinenten Tischlers zu verhindern suchte. Wobei – eigentlich ist er wohl mehr für die Rolle des Lord Voldemort gebucht, weil er einfach so gar keine sympathischen Eigenschaften aufweist in der Geschichte.
Bereits die H1 von 1735 erfüllte auf einer Seereise die Bedingungen des Komitees, aber die änderte man nachträglich. Dann folgten weitere lange Jahre, in denen Harrison allem Gegenwind zum Trotz immer bessere Modelle erschuf, schließlich eine Teilzahlung der Summe erreichte und dann das Modell H4 vorlegte. Dieses nahezu unglaublich genaue Modell wurde ebenfalls nicht anerkannt, unter fadenscheinigen Vorwänden wurden sogar die Konstruktionspläne konfisziert.
Was Harrison aber nicht daran hinderte, eine weitere Uhr zu bauen, die H5, die er sogar dem König persönlich vorführte. Immerhin hatte das Problem gerade für die Seefahrernation England eine staatstragende Bedeutung. Der König war begeistert, die Kommission immer noch nicht. Oder besser, Lord Voldemort, also Sir Maskelyne, der inzwischen sogar Hofastronom geworden war. Die akademischen Arschlöcher konnten halt auch damals schon Karriere machen. Erst als dero Majestät mit der königlichen Faust auf den Tisch des Parlaments zu schlagen drohte, wurde Harrison kurz vor seinem Tod die zweite Hälfte der versprochenen Summe ausgezahlt.
Die ganze Geschichte hat alles Zeug zu einem verfilmbaren Hollywood-Drama und ist im Buch „Längengrad“ in einen spannenden Wissenschaftskrimi gegossen worden, wie er besser nicht sein kann. Es ist alles dabei, sogar das Happy End mit dem gerechten Sieg des von der Sympathie des Publikums getragenen Helden-Protagonisten über den bösen akademischen Finsterling, dessen Standesdünkel und eigene finstere Weltherrschaftspläne den Fortschritt der Menschheit bedrohen. Geschichte bietet noch immer die besten Geschichten, da kann man sagen, was man will. Ich glaube, der Originalgeschichte mangelt es etwas an grandiosem Sex, Sonnenuntergängen und schönen Frauen, aber das könnte Hollywood sicherlich irgendwo einbauen, damit der Film nicht zu gut wird. Hat bei Star Wars 2 ja auch funktioniert.
1775 kehrte James Cook von einer seiner Weltreisen zurück und bestätigte die Exaktheit des „timekeepers“, den ein Mann namens Kendall als exakte Kopie von Harrisons H4 gebaut hatte, aus den zuvor konfiszierten Konstruktionsplänen. Ein Typ wie Maskelyne würde heute vermutlich für Apple Patentstreitigkeiten vom Zaun brechen, schätze ich.
Aber damit war das Problem gelöst. Mit Hilfe exakter Uhren wie der H5 konnte man auch auf See mit der erforderlichen Präzision die Zeit messen. Wieder war dem Universum ein Geheimnis entrissen, könnte man sagen.
Jetzt mußte man nur noch festlegen, wo denn die Linie verlaufen sollte, von der aus man die Messungen vornimmt, der Nullmeridian eben.
Nach einigem Gezerre, unter anderem auch mit historischen Vorläufern aus spanischen Großmachtszeiten, wurde dann schließlich Greenwich zum Sieger gekürt, und zwar im Oktober 1884, auf der Meridian-Konferenz in Washington, DC. Er trat unter anderem gegen einen Nullmeridian bei Paris an, dessen Existenz wohl schlicht politischen Gründen geschuldet war, und den sogenannten Ferro-Meridian, das ist der aus den genannten spanischen Großmachtszeiten.
Spanien hatte in der Renaissance nach der Wiederentdeckung der Kanarischen Inseln einfach die westlichste von ihnen als Nullmeridian herangezogen. Die hieß damals eben Ferro, heute ist das El Hierro, falls mal jemand die Inselgruppe vor Nordwestafrika besuchen sollte. Die Längenbestimmung war damals natürlich noch gruselig ungenau, immerhin hatten die Spanier die entsprechenden Uhren noch nicht. Was in Folge zum Bau von diversen Sternwarten führte, unter anderem eben der eingangs erwähnten von Paris und Greenwich, denn mit Hilfe der Beobachtung der Monddistanz und der Jupitermonde konnte man den Längengradfehler zumindest sehr deutlich verringern. Was dann zur bereits erwähnten Entwicklung der Geschichte führte. Diese Beobachtung der Jupitermondumläufe war auch eine der Methoden, die man im 18. Jahrhundert vorgeschlagen hatte, aber sie war eben einfach auf See nicht genau genug durchzuführen.
Nach dem Ferro-Meridian sind viele Landkarten des 16. bis 19. Jahrhunderts ausgerichtet, was man nicht vergessen darf, falls man mal mit einer solchen zu tun haben sollte, aus welchen Gründen auch immer.
Letztlich aber fiel die Entscheidung der Internationalen Meridian-Konferenz pragmatisch aus. Denn ein großer Teil der Erde ist nun einmal von Wasser bedeckt, hier aber richteten sich die Karten nach dem Greenwich-Meridian, denn die besten Seekarten stammten ohnehin aus englischer Produktion. Das führte eindeutig zum Sieg nach Punkten für die komische Insel mit dem Linksverkehr.
Inzwischen wissen wir sogar, daß der Nullmeridian etwa 100 Meter in der falschen Richtung liegt, das hat irgendwas mit örtlichen Gravitationsanomalien zu tun, die man damals nicht berücksichtigt hatte. Für den Hausgebrauch ist das aber völlig Wurst. Wenn ich an einer Insel vorbeisegeln sollte, weil der Nullmeridian um 100 Meter zu weit östlich liegt, ist das Ding es auch nicht wert, überhaupt gefunden zu werden. Pech für Tom Hanks, falls es ihn gerade dahin verschlagen sollte.
Die perfektionierten Präzisionsuhren werden zum Taktgeber einer neuen Zeit
Man sieht also, die Präzision der Zeitmessung wurde sehr bald zu so etwas wie einer Besessenheit. Immer neue Uhrmacher versuchten, das von Harrison vorgelegte Modell zu verbessern, was auch am Preis desselben lag, denn der hätte gut ein Drittel des durchschnittlichen Schiffspreises ausgemacht, was der Admiralität verständlicherweise etwas zu teuer war. Das ist ungefähr so wie heute, wenn manche Leute für einen Wecker am Handgelenk eine Summe ausgeben, die dem Jahresverdienst mehrerer Normalmenschen entspricht. Was ich nie verstanden habe, denn selbst wenn ich mir so eine Uhr leisten könnte, wären da nur 24 Stunden pro Tag drauf. Damals waren alle nur halbwegs präzisen Uhren so teuer, was sich erst langsam änderte.
Denn die nachgebauten Uhren nach Harrison waren wieder schlechter, was eindeutig beweist, daß Harrison ein echter Uhrmacher aus der Hölle und ein herausragender Konstrukteur war. Ein guter Handwerker zu sein, genügt nicht.
Schließlich wurden die „Taschenuhren“ tatsächlich zu eben solchen, also zu Zeitmessern, die man mit sich herumtragen konnte. Mit Harrions Exemplaren wäre das nicht möglich gewesen, die Dinger wogen gute 2 Kilogramm, waren also nach heutigen Begriffen eher Standuhren für die heimatliche Kommode von Oma oder so. Gerade rechtzeitig mit dem Beginn der Industrialisierung und deren Verbreitung erreichten Uhren aber eine Präzision, die sie zu einem Symbol der neuen Zeit machen sollten.
Unsere Vorfahren hatten da noch andere Sorgen. In einer Agrarwelt muß eine bestimmte Arbeit zu bestimmten Zeitpunkten erledigt werden, aber diese werden nicht durch einen Sekundenzeiger bestimmt. Ist es sehr heiß, steht man möglichst früh auf, noch vor dem ersten richtigen Licht, um die frühen Tagesstunden so ergiebig wie möglich zu nutzen. Dafür wird in der glühenden Mittagshitze eben nicht gearbeitet, man kennt das aus entsprechenden Ländern mit der Sitte der Siesta noch heute. In Spanien hängen Schilder an Geschäften, die was von einer Mittagspause erzählen, die eine Stunde dauert, aber das kann auch mal 2 Stunden oder länger sein, das kommt ganz auf die Gegend und das Wetter an.
Das Landleben war niemals eine romantische Sache, als die es heute gerne verklärt wird. Als vorindustrieller Agrarökonom tätig zu sein war Knochenarbeit. Heute finden Archäologen Skelette von Menschen, an deren Knochenzustand sie ablesen können, ob diese Typen noch Nomaden oder schon Bauern und Landwirte gewesen sind – denn die Knochenarbeit geht auf die Knochen, drum heißt die heute noch so.
Aber die Zeiteinteilung der Welt und ihrer Menschen war damals noch eine völlig andere, sie wurde nicht von künstlichen Einheiten vorgegeben, sondern richtete sich eben nach natürlichen Gegebenheiten.
Zu Zeiten eines Leonardo da Vinci stand man früh auf, nämlich mit dem Tageslicht, und beendete die Arbeit, wenn es zu dunkel wurde, um etwas anderes zu tun, als sich im Fackelschein einer Taverne zu besaufen. Aus diesem Grunde reden wir heute noch von Dingen wie „Tagwerk“. Der Unterschied zwischen Land und Stadt war hier marginal. Ich vermute, auf dem Land gab es weniger Fackeln in der Taverne. Aber insgesamt waren die bewohnten Gegenden der damaligen Zeit nachts eben dunkel und der Lebensrhythmus vom Licht abhängig.
Verabredete man sich also damals zum Mittag des nächsten Tages auf dem Dorfplatz, dann kam der eine um 11:50, setzte sich in den Schatten des dort vorsorglich gepflanzten Baumes und wartete ab. Bis dann sein Kumpel vorbeikam, so gegen 12:20, rauchte man in Ruhe ein Pfeifchen oder so. Die halbe Stunde Wartezeit war egal, das störte damals keine Sau.
Man könnte, wie der Klischee-Indianer, einen Stab in den Boden rammen und sagen: „Morgen, wenn der Stock keinen Schatten hat, dann treffen wir uns.“
Was übrigens nur am Äquator der Fall wäre, überall anders hätte der dumme Stock immer einen Schatten, auch mittags. Aber genauer war die Zeitmessung der Normalmenschen trotz bereits erfundener Uhren im vorindustriellen Zeitalter nicht und das war auch gar nicht notwendig.
Die Transformation der Agrar- in die Industriewelt Erde erforderte einen neuen Lebensrhythmus
Wichtig waren Jahreszeiten und das Wetter. Denn der richtige Regen zur richtigen Zeit bedeutete gute Ernte und war die gut, war alles andere auch erst einmal gut. War sie schlecht, war das für die Gemeinschaft ein Problem. Darum gibt es heute noch Ritualfeierlichkeiten wie Erntedank, nur hatten die damals eine echte Bedeutung.
Heute werden in den USA gefühlt 700 Millionen Truthähne geschlachtet, mit Kartoffeln und anderem Zeug ausgestopft und gegessen. Bis auf den einen, den der jeweilige Präsident immer symbolisch begnadigt. Übrigens ist das der Vogel, der in den Neuengland-Staaten so zahlreich vorkam, daß die Gründungsväter ihn zum Wappenvogel der USA erheben wollten. Was leider nicht klappte, der Weißkopf-Seeadler machte das Rennen.
Schade eigentlich, denn der Truthahn hätte mit einem Bündel Blitze in einer seiner Klauen sicherlich sehr lustig gewirkt, das ist ja heutzutage das Symbol für die militärische Wehrhaftigkeit des Landes. Möglicherweise hätten die USA weniger Aggressivität an den Tag gelegt innerhalb ihrer Geschichte mit dem Truthahn im Wappen. Stattdessen wird der Fast-Nationalvogel in großen Mengen gezüchtet und vertilgt, während das tatsächlich zur nationalen Ikone erkorene Federvieh dummerweise fast ausgestorben ist. Und das, obwohl Seeadler nicht mal so gut schmecken wie Truthahn, zumindest nehme ich das an.
Römische Auguren, persische Astrologen und griechische Orakel würden darin vermutlich ein böses Omen erblicken.
Heutzutage ist alles synchronisiert, alles exakt aufgeteilt. Nicht mehr sekundengenau wird gemessen, das ist nicht mehr genug. Eine Sekunde ist definiert als
„das 9.192.361.770fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustands von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung.“
Wer jetzt „Häääähh?“ sagt, hat durchaus mein Verständnis. Ich wußte auch nicht, daß man inzwischen einen Doktorgrad der Physik erwerben muß, um nach der Uhrzeit fragen zu können. Früher, oder besser, damals™, als ich noch zur Schule ging, war eine Sekunde der „86.400te Teil des mittleren Sonnentages“ – das war eigentlich schon kompliziert genug, fand ich.
Generell können Uhren um so genauer die Zeit anzeigen, je konstanter ihr Taktgeber schwingt. Statt langweiliger Pendel hat man Anfang des 20. Jahrhunderts bemerkt, daß Atome beim Übergang zwischen zwei Energiezuständen Wellen einer bestimmten Frequenz entweder abgeben oder absorbieren. Daraus entwickelte man die Atomuhr, um auch ganz sicher gehen zu können, daß eine Sekunde exakt genau so lang ist, wie sie eben sein sollte und auf keinen Fall länger. Oder kürzer.
Mit der fortschreitenden Industrialisierung tauchten im öffentlichen Raum mehr und mehr Uhren auf. Die Stechuhr bestimmte den Takt des Arbeiters, die neue Zeitmessung ermöglichte die genaue Erfassung der Dauer zwischen zwei Stahlabstichen und überhaupt die Erfassung des Universums in Scheiben aus Minuten, Sekunden, Zehntelsekunden. Das Glühen der Hochöfen, befeuert von aus den Tiefen der Schächte geborgenener Steinkohle, ihr unterirdisches Lager wasserfrei gehalten vom Metronomtakt der dampfbetriebenen Pumpen, wurde zur neuen Beleuchtung der wachsenden Industriestädte des europäischen Kontinents, von Großbritannien über Deuschland und Frankreich hinein ins neue, zeitsynchronisierte, von Fahrplänen eingeteilte Jahrhundert aus Blut und Stahl.