Die unerträgliche Nachhaltigkeit des Seins

– III –

Milch vom glücklichen Bären

„Sometimes the only thing more dangerous than a question is an answer.”
Ferengi-Erwerbsregel 208

Früher™ war es noch üblich, daß zum Herbst hin das Gemüse im Garten geerntet wurde. So wie vorher im Spätsommer das Obst von den Bäumen. Ein Teil davon wurde immer direkt verwertet. Es gab also leckeren Pflaumenkuchen. Oder Apfelkuchen. Oder Erdbeeren im Frühsommer. Ob mit oder ohne Kuchen, war in diesem Falle egal. Wer keine Erdbeeren mag, kommt ohnehin von einem anderen Planeten, und zwar einem sehr finsteren. Wenn man Glück hatte, gab es dazu noch Sahne, die aus der Milch hergestellt wurde, die wiederum am Morgen noch in der Kuh gewesen ist. Und die Kuh kannte man persönlich, weil man mit der Milchkanne jeden Tag beim Bauern vorbeischaute.

Im Marketingsprech heutiger Zeiten nennt man so etwas eine „direkte Beziehung zwischen Verbraucher und Produzenten”. Und diese existiert heute sehr oft nicht mehr. Unser ewig wachsendes Wirtschaftssystem, optimiert auf die Produktion von möglichst viel Müll und möglichst hohen Aktienkursen für Menschen, die eine Schlangengurke nicht von einer Möhre unterscheiden könnten, hat diese Beziehung erfolgreich vernichtet.
Agrarkonzerne wollen nicht die Welt ernähren oder möglichst leckeres Essen auf den Tisch bringen. Oder möglichst gesundes Essen. Sie möchten möglichst viel betriebswirtschaftliche Wertschöpfung in ihre Kasse spülen. Den Vorständen von ConAgra oder Mondelez International oder Nestlé ist es egal, was irgendein Agrarexperte – denn zumindest in den USA werden industrielle Soja- und Maisfarmen nicht mehr von Bauern geführt – am genmanipuliertem Getreide noch verdient oder nicht. Den Vorständen von Nestlé ist es sogar egal, wenn in Vittel das Wasser ausgeht.

Gerade eben hat der Handelskonzern ALDI den Milchpreis gesenkt in Deutschland. Eine weltbewegende Eilmeldung. Der Milchpreis in Deutschland. Als zuletzt vor ein paar Jahren verzweifelte Opfer der Agrarökonomie ihre selbsterzeugte Milch in den Rinnstein kippten, wurde die Entlohnung durch die ausbeuterischen Konzerne später erhöht. Käse, Butter, Sahne, Quark, eben alles, was aus Milch so hergestellt wird, wurde teurer. Verbraucher nickten gefällig, denn das war ja für den guten Zweck. Niemand will, daß sich Milchbauern im Stall unter ihre Kühe werfen müssen aus Verzweiflung.
Als die Preise später wieder fielen, blieben die Preise für Milchprodukte davon unbeeindruckt. Also hoch. Aktuell heulen Milchbauern wieder rum, die Preise seien zu niedrig, ALDI senkt sie trotzdem. Was geht da eigentlich ab?
Die Geschichte ist simpel. Da alle Erzeuger damals mehr Geld bekamen, haben die Einkaufsverbände des Großhandels hinterher ihre Berater losgeschickt. Die beraten natürlich nicht, die berechnen.
Hinterher gehen die Abgesandten der Hölle dann zum Landwirt und sagen ihm, was der Großkonzern X für einen Liter Milch so zahlen kann, um die Gewinnerwartungen der Aktionäre und Analysten weiterhin zu erfüllen. Wenn der Landwirt und Kuhbesitzer daraufhin die Hände überm Kopf zusammenschlägt, weil eben zweikommasechs Cent für einen Liter nicht ausreichend sind, um auch nur die teuren Antibiotika zu bezahlen, legt ihm der Vertreter des Großkapitals die Hand auf die Schulter und sagt: „Vertrau mir.” Continue reading →

Die unerträgliche Nachhaltigkeit des Seins

– I –

Grillsaison

„There is no such thing as ‘away’. When we throw anything away it must go somewhere.”
Annie Leonard

Ich habe Wälder immer gemocht. Die schattige, grün-dunkle Kühle eines Waldgebietes, während drumherum alles in glühender Sommerhitze gebacken wird, ist nichts, was man mit irgendeiner Klimaanlage herstellen könnte.
Bäche und Gräben, Insekten auf der Oberfläche eines Sees, das Gewimmel von Spannerraupen auf Brennesseln. Das Rufen der Gänse, die im Herbst über das Haus ziehen und mir so verkünden, daß es jetzt offiziell Winter ist. Die zurückkehren im Frühling, denselben Ruf ausstoßend, der aber diesmal bedeutet, daß auch die Ankunft des Frühlings jetzt beschlossene Sache ist. Das Licht und Wärme so unausweichlich sind wie Dunkelheit und Kälte.
Ich habe all diese Dinge immer gemocht. Ich war immer der Meinung, daß diese Dinge Schönheit tragen aus sich selbst heraus und das diese Schönheit, dieser Wert, auf jeden Fall etwas ist, daß man schützen muß. Das erhaltenswert ist. Menschliche Psychologie ernährt sich auf Dauer nicht gut von Beton und Asphalt. Wer sich zu lange in Gebäuden aufhält, in Umgebungen ohne natürliches Licht oder Pflanzen oder anderen Dingen, entwickelt psychologische Entzugssymptome, eine „Gier nach Grün”.

In diesem Sinne war ich also schon immer ein „Umweltschützer”. Wobei ich ja von diesem Wort heute wenig bis gar nichts halte, denn in ihm ist die typische Trennung zwischen „hier Mensch und da etwas anderes” enthalten, die zur aktuellen Lage beigetragen hat, in der Mensch sich befindet. Und diese Lage ist, gelinde gesagt, extrem beschissen.
Aber Umwelt ist in. Alles ist heutzutage irgendwie Grün. Selbst in Vorständen von Mineralölkonzernen wird das Wort der Stunde benutzt, das wie kein anderes den Niedergang der ökologischen Bewegung und auch des ökologischen Bewußtseins der Gesellschaft verdeutlicht: Nachhaltigkeit.
Niemand ist heute mehr am Schutz der Ökologie, der biologischen Naturgeflechte, ernsthaft interessiert – ich sage bewußt nicht „Umwelt” – weil er eine emotionale Reaktion auf natürliche Umgebung hat, wie ich sie als Kind hatte. Heute sind Menschen Umweltschützer, um etwas voranzubringen, das Nachhaltigkeit heißt. Ein seltsames Plastikwort in einer Welt, die sich zunehmend selber in Plastik verwandelt. Was bedeutet es? Continue reading →

Das Versprechen der Maschine

„Recyclingunternehmen: Die Auffanggesellschaft der Wegwerfgesellschaft.”
Peter E. Schumacher

Maschinen können uns Arbeit ersparen. Allerdings nur, wenn sie stillstehen, sobald genug von dem produziert worden ist, was so gebraucht wird. Das Angebot der Maschine, quasi seit Beginn der Industrie 2.0, lautete: „Arbeite weniger, Mensch.”
Doch dazu kam es dann nicht. Ganz im Gegenteil.
Arbeit und noch mehr Arbeit ist heute das akzeptierte Maß der Dinge. Aus irgendeinem Grund hat sich die menschliche Gesellschaft entschlossen, den Weg zu mehr Freizeit nicht zu beschreiten. Da scheint was schiefgegangen zu sein.
Wobei sofort die Frage aufkommen sollte, ob das stimmt. Hat die Gesellschaft sich wirklich dafür entschieden, einfach immer mehr zu arbeiten und mehr zu produzieren? Und wie soll das möglich sein, wenn wir doch nur die Dinge produzieren, die wir brauchen?

Die Antwort ist eben so simpel wie komplex, wie so viele andere Dinge. Nicht die Gesellschaft als Ganzes hatte etwas entschieden, das ihre Zukunft maßgeblich mitbestimmen würde. Oder zumindest ein hinreichend großer Teil der Gesellschaft, daß man sie als „überwiegende Mehrheit” bezeichnen könnte.
Über die Zukunft wurde entschieden von den Maschinenbesitzern. Niemand hatte ihnen erlaubt, zu definieren, wofür die Maschinen eingesetzt werden sollten. Sie nahmen sich dieses Recht einfach, denn schließlich hatte ihr Geld diese Maschinen bezahlt. Wobei auch das streng genommen nicht wirklich korrekt ist.
Die Maschnisten der modernen Gesellschaft entschieden sich nicht für die Option „mehr Freizeit”. Sie wählten, wenig überraschend, die Option „mehr Produktivität”.
Was nicht anderes bedeutet, als mehr Güter zu produzieren. Diese wiederum muß aber auch jemand kaufen, ansonsten verkommt Produktion zum reinen Selbstzweck. An dieser Stelle komme ich zurück auf das Bild mehr oder weniger leerer Produktionshallen moderner Industriekonzerne. Denn mehr Produktivität bedeutet nicht etwa mehr Arbeitsplätze. Es bedeutet längst mehr Maschinenarbeit und somit weniger Bedarf an Menschen. Irgendwie hat die Maschine also ihr Versprechen von mehr Freizeit für den Menschen doch erfüllt, könnte man so sagen. Continue reading →

Supermarkt der Selbstverständlichkeiten

„Ich kauf mir was. Kaufen macht soviel Spaß, ich könnte ständig kaufen geh’n. Kaufen ist wunderschön.”
Herbert Grönemeyer

Einkaufen im Supermarkt. Es ist immer wieder ein Erlebnis.
Zum Start gibt es winzige „Disney”-Schlangengurken. Nicht etwa lose. Nein, im Tray stehen kleine runde Plastikbecher mit gewölbtem Deckel. Denn natürlich müssen Zwerschlangengurken in ihrer Schale ganz speziell geschützt werden vor Räubern und Dieben. Oder so was in der Art, jedenfalls. Denn ansonsten wüßte ich nicht, warum man eine Gurke noch extra verpacken sollte. Ich kaufe in diesem Moment übrigens lose Champignons. Die werden nicht extra verpackt. Die verpackten Kollegen stehen in der Plastikschale oben drüber und sind per Kilogramm noch einmal sechzig Prozent teurer als die auch nicht ganz billigen losen Champignons. Die allerdings muß ich in einen Plastikbeutel stecken, denn sie müssen an der Kasse gewogen werden. Ich könnte sie einzeln da hinbringen, aber bisher war mir das noch zu doof.
Die kapitalistischen Komplizinnen an der Addierhilfe denken sich vermutlich schon immer ihren Teil, wenn ich mit Karotten ankomme, die sie einzeln abwiegen müssen. Oder Paprika. Die stehen als nächstes auf meinem Zettel. Normalerweise kaufe ich ohne Zettel ein, denn das trainiert das Gedächtnis. Dummerweise führt es auch dazu, daß ich gelegentlich das eine oder andere vergesse. Meistens Dinge, die man nicht essen kann oder die eben relativ selten auf Liste stehen. Weswegen ich manchmal doch Zettel schreibe, die ich dann aber gerne vergesse.
Jedenfalls liegen besagte Paprika ebenfalls im Plastiktray und leuchten mich dreifarbig abgepackt an. In Knisterfolie abgepackt, klare Sache. Ich kaufe die andere Sorte, in lose. Keine Verpackung. Und einzelnes Abwiegen an der Kasse, denn im Gegensatz zu sieben oder acht Karotten sind die Paprika für die Kassenwaage oft zu sperrig. Aber das ist ja nicht mein Problem. Stau an der Kasse ist wie auf der Autobahn: Immer nur hinten doof.

Nächster Punkt sind dann Tomaten. Ja, ich gebe es offen zu: Ich bin tomatensüchtig. Sollte es in unserer Gesellschaft jemals Bedarf an der Gründung der Anonymen Tomatoholiker geben, bin ich ganz vorne mit dabei, keine Frage. Tomaten landen bei mir regelmäßig im Essen – sei es gekocht oder eben, sauber in Scheiben zerlegt, auf meinem Frühstücksbrot. Beziehungsweise, auf dem Käse auf dem Frühstücksbrot. Dummerweise ist es gerade Winter, aber Tomaten gibt es trotzdem. Neuerdings auch in gelb oder einem seltsamen Aubergine-Farbton. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum jemand so etwas unbedingt kaufen wollen sollte, aber sie sind da. Genauso wie weiße Auberginen oder runde Auberginen, die aber immerhin noch die alte Farbe haben.
Selbst der Brokkoli, nächster Punkt auf der Liste, hat inzwischen einen seltsamen Abkömmling gezeugt, der Romanesco heißt und wie eine Kreuzung aus Fensterkitt und dreihundert Jahre alten Butterkeksen schmeckt. Ich mag sowohl den Blumenkohl als auch den Brokkoli, aber die Kombination aus beiden zeigt ganz klar, daß Genetik mit Sicherheit keine Lösung für irgendein Nahrungsproblem ist, das gar nicht existiert. Eine ganze Generation hoffnungsvoll ausgebildeten wissenschaftlichen Nachwuchses ist in den Laboren und auf den Zuchtfarmen der Lebensmittelindustrie gelandet und produziert Müll, den man essen soll.

Was den Käse, die Wurst und anderes angeht, so kaufe ich auch das ein. Verpackt in Plastik. Ich könnte natürlich auch an der Frischetheke zuschlagen und dafür mehr Geld bezahlen. Aber das Geld habe ich gar nicht, die Waren unterscheiden sich nicht wirklich signifikant und die jeweiligen Fachverkäuferinnen legen auch zwischen jede Scheibe Wurst oder Käse irgendeine Plastikfolie. Da kann ich auch ins Kühlregal greifen.
Dieses Kühlregal enthält eine unfassbare Menge an Dingen. Vor einer Weile suchte ich tatsächlich erstmals in meinem Leben gebratene Putenbruststreifen. Die gibt es, das weiß ich ganz genau.
Allerdings hatte ich Mühe, sie im Regal zu finden. Denn da stehen sie versteckt zwischen Dingen wie fertigen Teigtaschen mit Füllung, einer ganzen Palette angeblicher Feinschmeckersaucen für Pasta und anderen Erzeugnissen der modernen Lebensmittelindustrie, die in meinem Kopf sofort die Frage aufkommen ließ: „Meine Fresse, gab es das vor 20 Jahren auch schon?” Continue reading →