Das wahre Morgen

– XIII –

Das tödliche Happy End

„Wenn man das eliminiert hat, was unmöglich ist, muß das, was übrigbleibt, der Wahrheit entsprechen, mag es auch noch so unwahrscheinlich erscheinen.”
Sherlock Holmes

Unsere aktuelle Plastikkultur vermittelt uns weiterhin die Narrative, deren Zeit längst abgelaufen ist. In unserem chronischen, geradezu starrsinnigem Beharren darauf, daß das Paradies in der Zukunft liegt, in fliegenden Autos und Megastädten, im ewigen Fortschritt und ewigen Wachstum, laufen wir Gefahr, völlig zu vergessen, daß „Kultur” etwas ist, das nur auf dem Boden der Geschichte wachsen kann.
Bei vielen Menschen scheint dieses Vergessen bereits vollständig zu sein.
Bei anderen kann man nicht von Vergessen sprechen.
Eine ganze und eine halbe Generation sind bereits so erzogen und ungebildet worden, daß sie sich um Vergangenheit in den meisten Fällen einen Dreck scheren. Was man sich nie bewußt gemacht hat als Kollektiv, als Kultur eben, kann man nicht vergessen. Dieses mangelnde oder fehlende Bewußtsein wird dann politisch ausgenutzt, um Menschen denselben Unsinn machen zu lassen wie schon einmal. Es ist egal, ob Goebbels eine Rede hält oder ein Hochglanzprospekt der sogenannten Identitären Bewegung. Die Gedanken hinter der Sprache sind dieselben.
Wie so oft weigern wir uns standhaft, aus der Geschichte Lehren zu ziehen. In aktueller Ausprägung dadurch, daß die Vergangenheit für technologisch irrelevant erklärt wird. Gemeint ist damit auch immer kulturelle oder zivilisatorische Irrelevanz. Was gestern oder vorgestern war, kann heute nicht mehr benutzt werden, denn es ist ja von gestern. Also muß es schlechter sein, hat uns keine Antworten auf die drängenden Probleme und Fragen unserer Zeit zu bieten.
Das eventuell die angeblichen Lösungen der Probleme des Gestern durch Innovation und Fortschritt im Ergebnis die Probleme des Heute bilden, wird von den Heilspredigern der technologischen Erlösung ignoriert. Es paßt eben nicht ins verinnerlichte Narrativ. Nichts ist unlösbar. Nichts darf unlösbar sein.

Wobei auch das Konzept der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen „Problemlösung” unter den falschen Narrativen leidet. Denn nach der Lösung eines Problems, egal in welcher Form, muß die Welt zwingend besser sein. Wenn unsere Verbrennungsmotoren die Umwelt verseuchen und dem Klima schaden, nun – dann bauen wir eben weiterhin Autos. Nur eben ohne Verbrennungsmotoren. Denn das längst sinnleere Konzept des Fortschritts zwingt uns dazu, den Exzess unserer Massenmobilität, das Symbol des 20. und 21. Jahrhunderts, unbedingt beizubehalten. Eine Zukunft ohne diese Eigenschaft kann nicht gedacht werden und darf nicht gedacht werden. Es wäre ein Rückfall in finstere Zeiten aus Höhlen und Fackeln. Also etwa das Jahr 1900 oder so.
Da wäre vielleicht auch noch die Tatsache, daß diverse Konzerne mit dem Bau der individuellen Massentransportmittel eine Menge Geld verdienen und das auch gerne weiterhin tun möchten. Wer jetzt bei der Kombination von Individualität und Massentransport die Stirn gerunzelt hat, hat aufgepaßt.
Es kann also nicht sein, daß eben dieses Konzept in Frage gestellt wird. Das individuelle Fahrzeug, von Robotern liebevoll zusammengedengelt, muß unbedingt Teil der ewigen Zukunft sein und bleiben. Statt der Verbrenner nehmen wir eben Elektromotoren und alles wird gut sein. Hauptsache, es gibt weiter Autos. Schon deshalb, damit manche Menschen eines besitzen können, denn diesen Leuten geht der Besitz eines fossilen Vehikels über alles. Continue reading →

Abstieg vom Olymp

„Das Falsche ist oft die Wahrheit, die
auf dem Kopf steht.”
Sigmund Freud

Vom Gipfel dieses Berges hier unter meinen Füßen, vom höchsten Punkt unserer Zivilisation, ist die Aussicht unglaublich. In alle Himmelsrichtungen reicht der Blick des Kletterers über das Land. Siebeneinhalb Milliarden Menschen leben dort unten, auf dieser Welt, die ihre Bewohner seltsamerweise „Erde” nennen, obwohl sie doch zu gut drei Vierteln von Wasser bedeckt ist.
Noch vor 15.000 Jahren eine Art, deren Population einige wenige Millionen zählte, hat sich Homo sapiens sapiens in kurzer Zeit von Pol zu Pol ausgebreitet. Ob in der Wüste, im Regenwald oder im ewigen Eis – nirgendwo ist ein Ort von menschlicher Anwesenheit verschont geblieben.
Selbst da, wo offiziell noch nie jemand war, den wir auch als „Jemand” bezeichnen würden, finden sich Spuren der menschlichen Zivilisation. Giftige Spuren.

So manche Dinge sind seltsam von hier oben auf dem Berg.
Der Blick in die Ferne wird getrübt durch Abgase aus Industrieanlagen, aus Auspuffanlagen von Autos. Diese sollen meistens einzelne Menschen von Punkt A nach Punkt B bringen, sie bestehen aus wertvollen Metallen und verbrennen ein Raffinerieprodukt namens Benzin oder Diesel, ebenfalls wertvoll und aus Rohstoffen hergestellt, die nicht in unendlicher Menge vorhanden sind. Es gibt so viele von diesen Autos, daß sie oft hintereinander herumstehen, statt sich zu bewegen.
Der Blick an den Himmel wird getrübt von Dutzenden Kondensstreifen, die von großen Lufttransportern hinterlassen werden, in denen Menschen sitzen, die gerne von dem Ort weg wollen, den sie sehr oft ihr Zuhause nennen. Dabei ist es zu Hause doch am schönsten, sagt ein altes Sprichwort. Auch diese Lufttransporter verbrennen eine gigantische Menge an Kerosin, ebenfalls ein Produkt der unermüdlichen Raffinerien. Es gibt sogar Menschen, die behaupten, ihre Regierungen würden mit diesen Flugzeugen Chemikalien in großer Menge versprühen, um Gedankenkontrolle auszuüben.
Eine belustigende Vorstellung. Warum sollte man die Gedanken von Lebewesen kontrollieren wollen, die ganz offensichtlich bei weitem zu blöde sind, um überhaupt so etwas wie einen irgendwie logisch nachvollziehbaren Gedanken in ihrem Kopf zu entwickeln?
Aber Verschwörungstheoretiker sind sich für nichts zu schade. So eine Echsenmenschen-Rasse, die auch alle Piloten der Welt auf ihre Seite gezogen hat, ist natürlich viel einfacher, als sich mal ein wenig mit Atmosphärenchemie und -physik zu beschäftigen. Einige der angeblich menschlichen Lebewesen auf diesem Planeten sind echt mehr als seltsam. Also, noch seltsamer als der Rest.

Das Leuchten der Raffinerien in der Ferne erhellt ganze Küstenstriche, denn diese riesigen Anlagen stehen normalerweise an der Küste. Das liegt daran, daß die langkettigen Kohlenwasserstoffe, auf die diese Zivilisation auf Gedeih und Verderb angewiesen ist, mit gigantischen Tankern über den Ozean gebracht werden. Die wiederum brauchen Häfen und in denen stehen die Raffinerien, weil das am einfachsten ist. Tag und Nacht sind die chemischen Großküchen in Betrieb, um den öligen Pulsschlag der menschlichen Existenz zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten. Keine Ruhe, keine Rast, keine Erholung in unserer Zeit. Continue reading →