– IX –
Kollisionen
,,But when worlds collide, said George Pal to his bride: „I’m gonna give you some terrible thrills…“
The Rocky Horror Picture Show
Science Fiction als spezielle Form der Literatur und somit Bestandteil des etwas diffusen Gebildes, das wir „Kunst“ nennen, ist also durchaus eine lehrreiche Sache. Wir lernen, wie erwähnt, daß der Macht der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind.
Diese Macht ist in der Lage, ganze Gruppen von Menschen zu beeinflussen und ihnen Dinge in den Kopf zu setzen, die wiederum sehr viel mehr Auswirkung auf die Leben dieser Menschen hatten und haben, als diese Personen zugeben würden. Oder mehr, als ihnen überhaupt bewußt ist.
Eine ganze Generation an Technikern, Ingenieuren, Astronomen, Computernerds und anderen Typen hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Schicksal der Menschheit ein weiteres Kapitel voranzubringen auf dem unvermeidlichen Weg unserer Expansion zu den Sternen der Galaxis. Aus den unter der Bettdecke versteckten Lesern von Pulp-Magazinen und den studierenden Pickelgesichtern, die in den dunklen Ecken von gewissen Buchhandlungen diese seltsamen Romane mit leichtbekleideten Frauen drauf kauften, wurden in den 50er und 60er Jahren die Leute, die in einer neuen Behörde namens NASA die ersten Menschen auf den Mond hieven wollten. Nicht etwa, um den miesen Kommunisten eins auszuwischen, sondern einfach, weil es ging. Es mußte gehen, denn schließlich war der Weg der Menschheit ins All für diese Leute längst beschlossene Sache. Es mußte halt nur noch getan werden.
Man kann auch lernen, daß die Phantasie sehr wohl ihre Grenzen findet. Dann nämlich, wenn sie den physikalischen Bedingungen des echten Universums begegnet. Also kann man keine Kanone bauen, die Menschen zum Mond schießt. Das funktioniert nicht.
Was aber funktioniert, ist eben ein Raketenantrieb. Sobald man das Problem genauer Steuerung und ein oder zwei Fragen bezüglich Metallurgie und anderer Dinge mal in den Griff bekommt, versteht sich.
Schon steht der Eroberung des Weltalls nichts mehr entgegen. Nicht einmal diese Sache mit dem Dschungel der Venus, den es gar nicht gibt und auch nie gab. Oder die fehlenden Marsmenschen.
Hier greift wieder die Macht des Narrativs. Es kommt nicht so sehr auf die Details an, solange die eigentliche Geschichte lebendig bleibt. Das All gehört uns, ob jetzt mit oder ohne Dschungel. Das endlose Band des Fortschritts, getrieben vom Motor der Innovation, wird unweigerlich dafür sorgen, daß Mensch seine Heimatwelt verläßt und woanders hingehen wird. Wenn nicht in diesem Sonnensystem, dann im nächsten. Oder im übernächsten.
Wenn also jemand was Genaueres herausfindet über bisherige Annahmen und Hypothesen, muß man seine Vorstellungen der Realität anpassen, oder man macht sich lächerlich. Aber die Phantasie darf dabei nicht sterben. Wenn die Venus oder Mars eben doof sind, dann terraformen wir die einfach. Nur für den Fall, daß diese Geschichte mit den anderen Sonnensystemen etwas komplizierter sein sollte als gedacht.
Kein ernstzunehmender SF-Autor würde heute seine Weltraumkolonisten in der Zwielichtzone des Merkur siedeln lassen wollen oder Archäologen die Reste antiker Zivilisationen aus dem Marssand ausbuddeln lassen wie Edgar Rice Burroughs das getan hat. Oder Dinosaurier im dampfenden Dschungel der Venus eine Bedrohung sein lassen für tapfere Kolonisten der Erde, die ihre Felder mit Impulsstrahlern in der Nacht bei tosenden Tropengewittern gegen die einheimische Tierwelt verteidigen müssen. So wie bei Perry Rhodan zum Beispiel.
Niemand würde heute noch einen Roman schreiben wie die Reise zum Mittelpunkt der Erde oder überhaupt den Planeten Erde hohl sein lassen wollen. Wobei einer der schönsten Romane dieser Art genau an diesem Platz spielt.
Der Mondsee, geschrieben von einem Herrn namens Abraham Merritt, erschien im Jahre 1919. Die Handlung spielt in einer Welt unterhalb des Gebiets, das wir als Pazifik kennen. Ein Forscher, aufgeschreckt vom Hilferuf seines Kollegen, begibt sich in die Gefilde Polynesiens, dieser zig tausend im Südpazifik verstreuten Inseln und Inselchen. Dabei gerät er an ein Phänomen, das „Der Leuchtende“ genannt wird. Der seltsame, lebendig wirkende Nebel entführt Menschen zu unbekannten Zwecken. Bei seiner Nachforschung gerät der Protagonist in eine Welt unterhalb der Erdoberfläche. Eine ganze Zivilisation befindet sich in gigantischen Hohlräumen unterhalb des größten Ozeans der Erde. Viel älter und technologisch höher entwickelt als die der Menschen.
Merrit höhlt hier nicht die ganze Erde aus, nur einen Teil. Die riesigen Kavernen, in denen das Volk der Murianer lebt, sind entstanden, als sich der Mond in der Frühzeit der Erde von dieser abspaltete. Durch die schnelle Rotation im halbflüssigen Zustand wurde der Mond nach dieser Erklärung aus der Erde heraus geboren.
Diese Erläuterung ist keine Spinnerei, sondern war durchaus Stand der Dinge, als Merrit seinen Roman schrieb. Es ist die sogenannte Abspaltungstheorie, denn die Entstehung des Mondes beschäftigte die Wissenschaften schon recht lange zu diesem Zeitpunkt.
Entwickelt wurde sie Ende des 19. Jahrhunderts von einem Mann namens George Howard Darwin. Ja, es handelt sich tatsächlich um einen Verwandten des Darwin. Um genauer zu sein, seinen zweiten Sohn und das Kind Nummer Fünf im Eheleben des Evolutionsbegründers.
Wie sein Vater erhielt Mr Darwin jr. ebenfalls Unterstützung durch einen Geologen. Osmond Fisher fügte Darwins Hypothese 1882 die Überzeugung hinzu, daß der Pazifische Ozean die Narbe der Mondentstehung sein mußte.
Heute wissen wir, daß diese Idee nicht richtig sein kann. Denn etwas später erfand ein Mann namens Alfred Wegener die Plattentektonik, ich hatte das schon einmal erwähnt. Aber die war 1919 auch bei weitem noch keine anerkannte Theorie, ganz im Gegenteil. Die geologische Zunft lachte Wegener aus und blieb weiter bei ihren schon so lange gepflegten Theorien. Narrative haben halt so etwas Kuscheliges, wenn man sie eine Weile kennt.
Doch heute wissen wir das besser, und somit blieb kein Platz für eine Narbe auf der Erdoberfläche. Außerdem hätte der irdische Tag bei der Mondgeburt gerade einmal 2,5 Stunden lang sein dürfen, um die notwendige Energie für die Mondentstehung in der Abspaltungstheorie überhaupt aufzubringen. Natürlich war die Erdrotation früher schneller, aber so schnell dann wohl auch nicht, wie sich durch das Zurückrechnen der Daten erschließen läßt.
Trotzdem beschäftigt die Mondentstehung die Wissenschaften heute noch. Denn unser Nachbar im All hat eine deutlich geringere Dichte als die Erde. Außerdem weichen das geographische und das Schwerkaftzentrum des Mondes voneinander ab. Das wiederum liegt daran, daß die Rückseite des Mondes eine dickere Kruste hat als die andere. Das ist nur ein Teil der sogenannten Mondanomalien.
Immanuel Kant – ja, der imperative Typ – philosophierte 1755 in seiner „Kosmogonie“ darüber, daß der Mond als Schwesterplanet der Erde entstanden sei, wir es also hier quasi mit einem Doppelplaneten zu tun haben. Aber Kant hatte auch keine Satellitendaten zur Verfügung, die ihm etwas über die Dichte des Gesteins verraten hätten. Hatte ich schon erwähnt, daß neue Fakten für die Phantasie manchmal richtig lästig sein können?
1909 schlug ein Mann namens Thomas Jefferson Jackson See eine andere Theorie vor. Ich vermute, die Eltern dieses Mannes waren Fans bestimmter amerikanischer Präsidenten. Jedenfalls war nach dieser Idee der Mond ein eingefangenes Stück aus der Frühgeschichte des Sonnensystems.
Damit konnte See diese Sache mit dem Drehimpuls klären, also das mit der hohen Energiemenge im System, die ja irgendwoher kommen müßte. In diesem Fall hätte der Mond sie einfach dabei gehabt. Auch der Dichteunterschied wäre damit erklärbar. Aber die Theorie wurde fallengelassen. Denn der Mond hätte einer sehr unwahrscheinlichen Bahn folgen müssen, um sich einfangen zu lassen. Bei dieser Bahn wäre außerdem die Roche-Grenze überschritten worden.
Das ist der Punkt in der Annäherung zweier Körper unterschiedlicher Masse, an der der leichtere vom Gravitationsgradienten des schwereren zerbröselt wird. Denn je näher der Dünne dem Dicken kommt, desto mehr verformt er sich. Bis er dann schließlich zerbricht. Auf diese Weise sind die Ringe des Saturn entstanden.
Merritt befand sich also sehr wohl auf der Höhe seiner Zeit, als er die hohle Welt unter dem Pazifik mit seinen Gestalten bevölkerte. Trotz dieser durchaus wissenschaftlichen Basis fällt sein Roman dank der restlichen Inhalte der Geschichte eindeutig unter Fantasy, nicht Science Fiction. Aber sie ist immer noch eine sehr schöne und empfehlenswerte Abenteuergeschichte.
Eine Geschichte von zwei Monden. Oder drei. Oder vielen. Fakten töten Phantasien und gebären neue, die wiederum nach Fakten suchen lassen.
In den Anfangs-Sechzigern wurde schließlich vorgeschlagen, daß die Erde ja viele kleine Monde statt eines großen eingefangen haben könnte. Denn das bringt wesentlich weniger physikalische Probleme mit sich. Die Kleinmonde wiederum bewegen sich dann nach außen, wo sie schließlich zusammenstoßen und aus den Bruchstücken den heutigen Mond bilden.
Falls das jemanden wundert: Die Physik besagt, daß sich ein Objekt wie der Mond immer weiter von der Erde entfernt, denn beide Körper beeinflussen sich gegenseitig durch ihre Gravitation. Der Mond bremst die Erde ab, durch die entstehenden Gezeitenkräfte. Dabei wird wiederum Drehimpuls auf den Mond übertragen, denn wenn die Erde an Rotationsenergie verliert, muß diese ja irgendwo bleiben. Ich verweise auf die allgemeinen Erhaltungssätze bei eventuellen Beschwerden.
Diese Impulserhaltung aber führt dazu, daß der Mond sich von der Erde entfernen müßte.Was er auch tut. Die Geschwindigkeit dieser Bewegung liegt bei etwa 3,8 Zentimetern pro Jahr. Wir messen das heute mit dem Laser.
Dieselbe Expedition, welche die Spiegel aufstellte, die heute solchen Messungen dienen, brachte auch Mondgestein mit zur Erde. Nach dessen Analyse war die sogenannte Viele-Monde-Theorie ebenfalls erledigt. Denn die Dichte zwischen Erde und Mond ist deutlich unterschiedlich, aber auf Ebene der Isotopenanalyse sind beide echte Zwillinge. Sie müssen also sehr eng verwandt sein. Das mit den Fakten und der Phantasie hatte ich erwähnt? Gut.
Die heute gängige Ansicht ist übrigens die Theia-Hypothese. Benannt nach der Mutter der griechischen Mondgöttin Selene, besagt diese, daß damals, vor ziemlich langer Zeit, ein anderer Planet oder Fast-Planet die Erde rammte. Und zwar ein Brocken von etwa der Größe des Mars, wir reden hier also nicht von kleinen Kalibern.
Ab Mitte der 1970er Jahre entwickelt, wird in dieser Theorie die Erde von diesem Planeten nicht voll erwischt, sondern kriegt einen üblen Streifschuß verpaßt. Dieser reißt einen Teil der Materie aus unserem Planeten heraus, diese Trümmer bilden wenig später – weniger als ein Jahrhundert – den Mond, der allerdings noch sehr viel näher an der Erde steht als heute.
Durch die am Anfang enorm starken Gezeitenkräfte driftet der Erdtrabant dann schnell nach außen.
Ich persönlich glaube der Theia-Hypothese nicht. Denn sie krankt an ähnlichen Dingen, die man der Einfanghypothese vor einem Jahrhundert vorwarf: Sie ist wahnsinnig unwahrscheinlich. Sie ist im Grunde so unwahrscheinlich unwahrscheinlich, man könnte ein Raumschiff damit antreiben.
Der Eisenkern des Impaktkörpers soll beispielsweise mit dem der Erde verschmolzen sein. Gleichzeitig sollen aber leichtere Materialien aus Kruste und Mantel von Proto-Erde und Attentäter den Trümmerhaufen gebildet haben, aus dem dann der Mond entstand.
Die Hypothese ist gut. Sie erklärt die Unterschiede der Dichte, die Krustenanomalie und diese Sache mit dem Drehimpuls. Allerdings mußten die Forscher mehrere zig tausend Simulationen laufen lassen, bis sich tatsächlich mal ein Mond bildete. Meistens blieb einfach nur ein Trümmering. Zudem ist ein Einschlag, bei dem die Kerne von Proto-Planeten verschmelzen, in meinen Begriffen kein Streifschuß, sondern eine gottverdammte Totalapokalypse.
Augenzwinkernd füge ich einen weiteren Punkt hinzu: Sollte diese Idee richtig sein, hätte die Erde einen Teil ihres Kerns einem extrem superunwahrscheinlichen Ereignis zu verdanken. Was in der weiteren Überlegung Konsequenzen bis heute hat.
Was mich betrifft, lautet daher die korrekte Antwort auf die Frage der Mondentstehung heute noch: „Wir wissen es nicht.“
Was ein Grund ist, daß ich Merritts Roman immer wieder einmal gerne lese und mich dabei erwische, wie ich die ausgehöhlte Welt unter dem Pazifik einfach als gegeben hinnehme.
Gerade erst haben Forscher aus einem Dutzend Ländern einen neuen Kontinent ins Leben gerufen. Zealandia heißt das gute Stück, und niemand kennt es. Denn heute liegt diese Gegend im Schnitt in tausend Metern Wassertiefe. Aber das war wohl mal anders. Gesichertes Wissen kann also für eine Phantasie oft echt tödlich sein. Aber sehr häufig entsteht daraus eine neue Basis für neue Phantasie. Wir Menschen hören nicht auf, Geschichten zu erdenken. Wir können gar nicht anders.
Und doch würde heute niemand mehr seinen Helden auf der Suche nach Ruhm und wissenschaftlicher Wahrheit auf Expedition ins Innere der Erde schicken.
Kein ernstzunehmender Verlag würde so etwas heute noch anfassen. Es sei denn, der Kopp-Verlag bringt demnächst auch noch SF heraus. Wissenschaftliche Fakten sind der zuverlässige Auftragskiller der Phantasie. Das ist zwar bedauerlich, aber auch notwendig. Ansonsten hätte SF sich niemals weiterentwickelt und noch heute würde Riesenzeppeline mit Dampfmaschinenantrieb durch die Lüfte gondeln wie bei Jules Verne.
Hier zeigt sich auch ein klarer Unterschied zwischen Science Fiction und dem Ableger Steampunk. Die SF wollte immer einen Blick in die Zukunft werfen, die – zumindest in irgendeiner Form – zum jeweiligen Zeitpunkt möglich erschien. Entweder dem Autor oder zumindest dem Publikum, auf das er zielte. Selbst in einer Welt, in der Wissenschaftler bereits erhebliche Zweifel an einer hohlen Welt haben, in deren Mittelpunkt man reisen kann, weil die moderne Geologie und Physik bereits erfunden waren, kann man eine solche Reise noch immer spannend und überzeugend beschreiben. Indem man den Protagonisten nämlich auf die andere Seite der wissenschaftlichen Meinung stellt, die er dann im Laufe seines Abenteuers auch beweist. Und diese andere Meinung war zu Vernes Zeiten durchaus noch lebendig.
Heute könnte Verne diesen Roman nicht mehr schreiben. Wir wissen einfach zuviel darüber, wie das Erdinnere aussieht. Da ist nicht gut reisen. Aber vielleicht kommen Atlantis-Romane demnächst wieder in Mode.
Auch Invasionen vom Mars sind nicht mehr so wirklich in. Denn wir wissen zwar noch immer nicht viel und bei weitem nicht genug über den angeblichen irdischen Zwilling, jedoch längst genug, um sicher sein zu können, daß uns von dort niemand angreifen wird. Weil auf dem Mars nie eine Sau gewohnt hat. Schon deshalb, weil auch eine marsianische Sau ein vielzelliges Lebewesen gewesen wäre.
Falls dieser Planet nicht zufällig einmal von intelligenten Einzellern bewohnt gewesen ist, können wir auch Ruinen mit großer Sicherheit ausschließen.
Das ist extrem bedauerlich, denn dadurch kann heute auch ein Mann namens Ray Bradbury seinen berühmten Roman-Klassiker nicht mehr schreiben. Wobei ich „Die Mars-Chroniken“ als Vertreter der SF der eben genannten Art wärmstens empfehle.
Durch verbesserte Teleskope und andere Dinge waren auch hier bereits erhebliche wissenschaftliche Zweifel aufgekommen, was denn die Lebensfähigkeit des Mars anging.
Trotzdem veröffentlichte Bradbury seinen Roman 1950 noch und schaffte es in seinen Erzählungen – der Roman besteht aus Einzelepisoden – sehr wohl, den Leser in den Bann einer Zivilisation zu ziehen, die bereits Hunderttausende von Jahren vor der menschlichen Erfindung des Feuers ihre Spuren hinterlassen hat. Und von der wir heute wissen, das sie niemals existiert hat.
Doch auch heute bietet Mars sehr wohl Platz für großartige SF. Andy Weirs „Der Marsianer“ ist ein hervorragendes Stück Arbeit und sollte von jedem – auch Nicht-SF-Fans – gelesen werden.
Schon die Ausgangssituation, in der der Protagonist schlicht auf dem Mars „vergessen“ wird, weil sein Team ihn für tot hält, hat etwas absurd Komisches. Niemand hat etwas falsch gemacht. Ganz im Gegenteil. Die Kommandantin der Expedition handelt in einer Krisensituation durchaus verantwortungsbewußt und den Regeln entsprechend. Trotzdem ist das Ergebnis, zumindest für den Helden, eine Katastrophe.
Ich habe lange nicht mehr so oft gegrinst, gelacht und mit dem Helden mitgefiebert, der auf dem verdammten Mars von einer Extremsituation in die nächste fällt, während er nur einer einzigen Aufgabenstellung nachgeht: „Wie überlebe ich lange genug, bis das Taxi kommt?“
Und nur nach einem oder zwei Kapiteln stellt sich der Leser die Frage nach dem Sinn des Überlebens. Oder kurz gesagt: „Warum macht der Typ das eigentlich?“
Denn eigentlich kommt das Taxi auf jeden Fall viel zu spät, um den Marsianer noch zu retten. So nennen die Medien der Erde den unfreiwilligen Kolonisten, als sich die Geschichte seines Überlebens herumspricht. Seine alte Crew weiß davon aber nichts, denn die befindet sich unwiderruflich auf dem Rückweg und niemand möchte sie beunruhigen.
Weir bietet fantastische SF auf dem Boden harter wissenschaftlicher Fakten. Es gibt keine Romantik in der Handlung und noch dazu jede Menge technischen Kram diverser Fachrichtungen. Naturwissenschaftliche Bildung der Stufe C wird dringend empfohlen. Das Ganze wird mit einer guten Portion Humor serviert, auch wenn es oft Galgenhumor des Protagonisten ist. Ein Augenzwinkern im Angesicht des Todes.
Ich weise darauf hin, daß ich den Film nie gesehen habe und das auch nicht vorhabe. Keine Verfilmung kann besser sein als die Geschichte, sie sich bereits in meinem Kopf befindet. Denn beim Lesen einer Geschichte geschieht im Kopf etwas völlig anderes als beim Anschauen eines Kinofilms.
Weirs Roman hat absolut nichts mit dem romantischen, wenn man so will, klassischem Marsbild zu tun, mit Weinreben neben lauschigen Kanälen. Weir hat, so könnte man sagen, die Mars-SF einem eindeutigen Update unterzogen.
Auch hier läßt sich etwas lernen: Nämlich die Tatsache, daß Menschen auch durchaus mit einer neuen Erzählung, einem neuen Narrativ, zurechtkommen können. Es muß nur ansprechend präsentiert und dargelegt werden. Nicht eine Sekunde lang versuchen die Romanfiguren, den verdammten Mars für die Menschheit zu erobern. Sie sind eine wissenschaftliche Expedition. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Natürlich steht irgendwo im Hintergrund der Gedanke daran, daß in einer fernen Zukunft doch mal mehr als sechs Menschen gleichzeitig auf dem Mars leben könnten. Aber das findet bereits zwischen den Zeilen und im Kopf des Lesers statt.
Was einen weiteren Punkt verdeutlicht: Ein verändertes Narrativ ist nur dann akzeptabel für die Gesellschaft, wenn es nicht zu radikal ist. Solange die Besiedlung des Mars nicht für unmöglich erklärt wird, sondern der heldenhaft um sein Leben improvisierende Protagonist genau diese Art Zukunft durch sein Handeln sichert, ist der Erfolg der Erzählung garantiert.
Darum wird – ohne das jetzt groß zu spoilern – der Arsch des Helden am Ende der Geschichte eben auch gerettet. Der stinkende Arsch des Helden, muß man hinzufügen, denn der hat immerhin eine ganze Weile in seinem Raumanzug gewohnt.
Geschichten haben die Zivilisation erschaffen. Aber sie haben Zivilisationen auch untergehen lassen. Es ist an der Zeit, loszulassen, bevor es viel zu spät ist.
Hier komme ich noch einmal zurück auf Steampunk. Diese Stilrichtung entwirft eben keine neue Geschichte. Sie geht zurück in ein viktorianisches Zeitalter und fabuliert darüber, wie dieses hätte aussehen können, hätten die Wissenschaften schnellere Fortschritte gemacht bzw. die Gesellschaft diese schneller integriert.
Generell ist diese Spekulation des „was wäre wenn“ natürlich völlig zulässig im Bereich der Science Fiction, und nicht nur dort. Ein ganzer Zweig heutiger Geschichtswissenschaften befaßt sich mit eben dieser Frage. Das nennt man dann nicht SF, sondern „kontrafaktische Geschichte“.
Im Gegensatz zur SF oder zum Steampunk ist aber die wissenschaftliche Variante an strenge Rahmenbedingungen gebunden. Idealerweise verändert man nur einen Punkt in der Vergangenheit. Noch idealer ist es, wenn wir aus historischen Quellen wissen, daß diese andere Variante eben auch eine hohe Wahrscheinlichkeit hatte.
Der Vater dieser Überlegungen ist auch einer der berühmtesten Historiker, nämlich Arnold Toynbee.
Toynbees berühmte Spekulation findet sich in seiner Essaysammlung „Some problems of Greek history“ von 1969 und behandelt die Frage, welche Folgen es gehabt hätte, wenn Alexander der Große nicht mit 32 Jahren in Kleinasien stirbt, sondern sein Reich erobert und dann über siebzig Jahre alt wird. Eine kleine, aber sehr wohl mögliche Veränderung der Geschichte. Den Rest möge der Interessierte selber nachlesen.
Ebenso zulässig wäre aber die Spekulation, daß Alexander überhaupt nie „der Große“ wird bzw. geworden ist. Und zwar, weil er in seiner ersten großen Schlacht zu Beginn seines Eroberungszuges leider getötet wird. Wir wissen, daß dieses Ereignis eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit hatte, denn es wird in den historischen Quellen erwähnt. In der Schlacht am Granikos, im Mai 334 vdZ, ist Alexander nur knapp mit dem Leben davongekommen.
Was wäre, wenn die spanische Armada 1588 Erfolg gehabt, London von spanischen Truppen besetzt und eine Königin Elisabeth I. in den Tower geworfen worden wäre?
Wir wissen es nicht, aber jedenfalls würde es heute keine anglikanische Kirche geben. Womöglich würde es überhaupt nur eine katholische Kirche geben, denn ein katholisches England wäre nicht ohne weitere Auswirkungen auf die Reformation in Europa geblieben, deren 500. Geburtstag Deutschland morgen damit feiert, daß ausnahmsweise für alle Feiertag ist. Da steht meine Bambushütte am Rande der Gesellschaft quasi ausnahmsweise mal auf einem Logenplatz. Hier schreibe ich, ich kann nicht anders.
Auch so ein Narrativ, bis heute. Dieser Luther, der die Kirche damals gespalten hat. Hat er aber gar nicht. Die katholische Kirche war schon lange vor Luther ein einziges Trümmerfeld aus Huren, Papstkindern, Palastintrigen und Korruption. Das einzige, was ein Luther wollte, war eine Eindämmung der übelsten Auswüchse zu erreichen.
Hat allerdings nicht funktioniert, denn heute beschweren sich die Dogmatiker der Kirche darüber, daß sie nicht in Samt und Seide rumlaufen dürfen, sondern sich um diese schmutzigen Armen kümmern sollen, von denen die Herren Bischöfe und Kardinäle gerüchteweise mal gehört haben.
Luther brachte damit mächtige Leute gegen sich auf, dann wurde er versteckt, denn Religion bedeutete damals auch immer Politik. Und weil er sich langweilte, während er auf der Wartburg herumhocken mußte, übersetzte Luther derweil die Bibel ins Deutsche.
Deswegen haßt die katholische Kirche den Mann heute noch. Denn damit war das bis dato ausgeübte Informationsmonopol weg. Plötzlich konnten die blöden Bauern, denen man den Zehnten abpresste, mal nachschauen, was in dem Heiligen Buch, das ihre Priester ihnen seit Jahrhunderten vorhielten, tatsächlich so drin stand.
Zum Glück waren Twitter, Facebook, Netflix und das Internet damals noch nicht erfunden. Denn dann hätte Luther sich auf der Wartburg vermutlich Pornos reingezogen, statt sich zu langweilen. Und die Bibel wäre von Google Translate übersetzt worden.
Luther mit Twitter-Account – das wäre dann Steampunk. Wie man unschwer erkennen kann, unterliegt Steampunk den strengen Einschränkungen der kontrafaktischen Geschichte nicht. Hier wird einfach alles, was den jeweiligen Fans und Gestaltern in den Kram paßt, in einen Topf geworfen.
Da schwirrt Kapitän Nemo in einem eher schwachen Machwerk wie „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ mit einer Nautilus durch die Gegend, die Raketen an Bord hat und fährt 1895 mit einem Auto auf dem Stand von 1940 durch die Gegend. Abgesehen von den lächerlichen Kronleuchtern anstelle der Scheinwerfer. Dabei war Elektrizität 1895 eindeutig bereits aus dem Laborstadium heraus.
Steampunk ist die nostalgische Verklärung einer Vergangenheit, die so nie existierte und eine oft widersinnige Vermischung von modernen Erkenntnissen und viktorianischem Lebensstil. Steampunk ist quasi die AfD unter den SF-Abkömmlingen, die Bande wird ja auch von einer lesbischen Faschistin geleitet. Steampunk ist schlicht und einfach rückwärts gewandt. Er bietet keine Vision eines anderen, aber möglichen Morgen, sondern eines anderen, aber falschen Gestern.
Das Gestern aber müssen wir so hinnehmen, wie es eben war, so sehr ich als SF-Fan bedaure, das sagen zu müssen. Aber noch hat niemand eine Zeitmaschine gebaut und nach allem, was wir wissen, wird das auch nie jemand tun oder tun können. Der vulkanische Wissenschaftsrat ist da derselben Meinung.
Die Vergangenheit, so hat schon Superman in meinen Comics der 80er Jahre festgestellt, kann nicht verändert werden. Nicht einmal von ihm.
Somit ist Steampunk als Stilrichtung von SF und Fantasy sehr wohl ganz witzig anzuschauen, nur eben kein Entwurf für ein neues Narrativ für die industrialisierte Gesellschaft. Es ist Nostalgie über das angeblich bessere Gestern, das dann aber in einer neuen und verbesserten Version erträumt wird. Und es bleibt eben ein Gestern.
Die menschliche Zivilisation, besonders die in den entwickelten und überentwickelten Industriestaaten, braucht aber ein neues Morgen. Eine neue Erzählung. Neue Geschichten.
Niemand würde heute noch glaubhaft behaupten können, die Venus sei eine lauschige Dschungelwelt voller Flüsse und Dinosaurier. Niemand glaubt heute noch ernsthaft an Marskanäle. Der Merkur hat keine Zwielichtzone. Ebensowenig hat er überhaupt eine Atmosphäre. Heinleins „Farmer im All“ würden heute von keinem Autor mehr zum Ganymed geschickt, um dort fröhlich pfeifend, den Pflug von lila Kühen gezogen, Ackerbau für eine Erde zu betreiben, die dabei ist, zu verhungern. Diese Dose Mais könnte niemand bezahlen.
So viele der Dinge, von denen Mensch annimmt, daß sie die Zukunft bestimmen werden, beruhen auf Wunschdenken. Auf einem Bild der Zukunft, wie sie erträumt wird. So wie Steampunk die Vergangenheit erträumt.
So viele Dinge beruhen auf völliger Ignoranz wissenschaftlicher Erkenntnis. Außerdem einer schlichten Weigerung, bestimmte Aspekte überhaupt in Betracht zu ziehen.
Auf einer Art „Was wäre, wenn…“, das aber in die Zukunft gerichtet ist und dabei völlig außer acht läßt, daß die Gesetze dieses Universums und dieses Planeten in keiner Weise dazu gemacht wurden, einer Spezies wie unserer irgendwelche Wünsche zu erfüllen. Wir sind nur zufällig hier auf dieser Bühne.
Physik jedoch ist durch Phantasie vollkommen unbestechlich. Es ist längst überfällig, den alten Irrglauben hinter uns zu lassen. Die aktuellen Narrative, die unsere Gesellschaft weiterhin zusammenhalten sollen, haben ihre Haltbarkeit überschritten. Ihre geistige Gültigkeit ist nicht mehr gegeben. Ihre Glaubwürdigkeit ist überall im Schwinden begriffen und verzweifelt greifen die Menschen nach jedem Strohhalm, den ihnen irgendwer hinhält.
Allerdings nur, solange der Strohhalm auf keinen Fall kürzer ist als vorher und auf jeden Fall in einem Cocktail steckt. Von Durst will niemand was hören. Es ist dringend Zeit, nüchtern zu werden.
Update 20180316: Offenbar hat sich da noch jemand weitere Gedanken darüber gemacht, wie der verdammte Mond eigentlich entstanden sein soll. Das neueste Produkt der Hypothesenküche heißt offenbar Synestia und ihm zufolge wäre die Erde bei der damaligen Kollision komplett in Rauch aufgegangen. Ich schätze, das bringt wieder ganz eigene Probleme mit sich 😀
Wären dann die Ghibli-Geschichten wie Castle in the Sky als Steampunk zu bezeichnen? Oder eher Fantasy?
Also, erst mal ist das natürlich japanisch. Und die Japaner sind schlicht komplett irre 😀
Dann gibt es bei Castle in the Sky untergegangene Kulturen und geheimnisvolle Flugsteine. Woanders gibt es Hexen. Und Dämonen. Formwandler. Tödliche Flüche.
Ich tät mal sagen: Fantasy.
Aber es gibt natürlich Romane und wohl auch Filme, die irgendwie „dazwischen“ sind. Robert Silverbergs Majipoor-Romane sind beispielsweise eindeutig Science Fiction. Deswegen werden sie auch auf Seiten wie Goodreads entschieden unter Fantasy eingeordnet.
Brian W. Aldiss „Helliconia“ ist ein großartiges Beispiel für epische SF. Allerdings streiten manche darüber, ob es überhaupt SF ist.
Aber wenigstens sind die beiden keine Japaner 😀
„Der stinkende Arsch des Helden, muß man hinzufügen, denn der hat immerhin eine ganze Weile in seinem Raumanzug gewohnt.“
Unter (vielem) anderem wegen Passagen wie dieser, ist dein Blog so wertvoll.
Das Offensichtliche, was man so gerne übersieht, kurz und knackig „in ya face“. Herrlich. Danke.
Öhmmm…bitte 🙂
Heute lese ich nicht nur deinen Beitrag, sondern auch zum zweiten Mal den ‚Marsianer‘, der sich gerade damit befasst, wie er seinem Taxi vielleicht bis zur nächsten Straßenecke entegenkommen kann,…
und aus Bradbury zitiert eins meiner Lieblingsgedichte (hab den zum ersten Mal mit 16 rum gelesen, glaube ich..):
There will come soft rains and the smell of the ground,
And swallows circling with their shimmering sound;
And frogs in the pools singing at night,
And wild plum trees in tremulous white;
Robins will wear their feathery fire,
Whistling their whims on a low fence-wire;
And not one will know of the war, not one
Will care at last when it is done.
Not one would mind, neither bird nor tree,
If mankind perished utterly;
And Spring herself, when she woke at dawn
Would scarcely know that we were gone.”
Da das Buch einen der zahlreichen Umzüge nicht überstanden hat (anders formuliert – es ist wech), musste ich etwas herumsuchen…
Quelle: https://www.stark-verlag.de/media/wysiwyg/STARKdigital/Musterbeitraege/Unterrichtseinheit_zu_There_Will_Come_Soft_Rains.pdf
Und es werden kommen leise Regen…
Vorletztes Kapitel. Ich habe die ’74er Ausgabe von Heyne im Regal.
Hmmm…das vorletzte Kapitel ist Augst 2026. Zeitlich gar kein schlechter Rahmen.