Mythopolis

– I –

Das Morgen von gestern

„Eine der Definitionen geistiger Gesundheit ist, das Wirkliche vom Unwirklichen unterscheiden zu können. Sehr bald werden wir eine neue Definition brauchen.”
Alvin Toffler

Die Fortschritte der Technik erfolgen in immer kürzeren Abständen. So lautet der Einleitungssatz der Stimme aus dem Off in einer Dokumentation über Nanotechnologie, die ich mir neulich angesehen habe.
Im Bereich der Nanotechnologie geht es, wie der Name schon vermuten läßt, um Größenordnungen kleiner zu als in der Mikrotechnologie, die uns so etwas Großartiges wie den modernen Computer und das Smartphone geschenkt hat. Wobei, geschenkt würde ich jetzt nicht sagen bei den Preisen.
In der Nanotechnologie sind also die Dinge, die woanders in Mikron gemessen werden – das sind Tausendstel eines Millimeters – noch viel kleiner. So klein, daß ein einzelnes Nano sich in einem Mikron vorkäme wie unsereiner alleine im Mittelmeer. Letztlich sind die Ingenieure heute in der Lage, ein einzelnes Atom zu manipulieren oder Maschinen zu bauen, die aus nur wenigen Atomen bestehen. Das ist in der Mikrotechnologie nicht viel anders. Innerhalb einer modernen CPU in einem Computer wie dem, der auf meinem Schreibtisch steht, werden diverse Elemente übereinandergeschichtet. Viele dieser Lagen sind nur wenige Moleküle dick. Aber ein Molekül besteht eben aus mehreren Atomen.
In der Nanotechnologie wäre es möglich, aus beliebigen Atomen beliebige Moleküle zu bauen, sofern deren Zusammensetzung bekannt ist. Allerdings würde es relativ lange dauern, eine Zahnbürste herzustellen, da die etwa 76 Bazillionen Atome enthält. Wenn die alle erst mit einem Kran an die richtige Stelle gebracht werden müßten, könnte das etwas Zeit erfordern. So zwei, drei Jahrtausende.

Eine industrielle Nanoproduktion von irgendwelchen Dingen, so wie der Replikator in Star Trek sie vorführt, steht also eindeutig derzeit nicht zur Debatte.  Mit Hilfe der reichlich vorhandenen Energie des Antimaterie-Reaktors werden hier Moleküle zusammengebastelt, die dann, entsprechend zusammengesetzt, etwas ergeben, das ein bißchen – aber nicht völlig – anders schmeckt als Curryhuhn mit Reis oder Tomatensuppe, für die über 200 Rezepturen vorliegen. Oder Tee. Earl Grey. Heiß.
Wobei das natürlich ein bißchen geschummelt ist, denn irgendwo muß der Replikator eine Quelle für seine Moleküle haben, er arbeitet nicht auf atomarer Ebene. Es muß also an Bord der Enterprise-D eines Captain Picard ein Lager mit Rohmasse geben, mit der die Replikatoren beschickt werden, einen Molekülvorrat sozusagen.
Ich hätte ja gerne so ein System, damit ich nie wieder Abspülen muß. Von allen Haushaltstätigkeiten mag ich diese mit Abstand am wenigsten. Und natürlich ist der Replikator jederzeit in der Lage, die benutzte Teetasse des Captains wieder in ihre Rohform aufzulösen. Wie praktisch ist das denn?

Es sind Serien wie diese und unzählige Filme im SF-Bereich, die uns allen den Basismythos unserer Zivilisation vorgeben. Geschichten, die nur aufgrund dieses Mythos überhaupt erst entstehen konnten. Der Mythos des Fortschritts und der umfassenden Allmacht der Technologie.
Aber was genau ist das eigentlich, Technologie?
Und warum nenne ich Fortschritt einen Mythos, denn das habe ich ja inzwischen in einigen anderen Texten ebenfalls getan?
Nun, ich fürchte, dazu muß ich etwas weiter ausholen. Denn um die Grundannahmen, auf denen unser Alltag beruht, ordentlich zu zertrümmern, muß man eben auch weit ausholen, sonst funktioniert das nicht. Aber es macht unglaublichen Spaß.

Beginnen wir also mit dem Wort „Mythos”. Wie immer bei der Benutzung von Sprache stoße ich hier sofort auf das Problem, daß der jeweilige Leser bei diesem Wort an die allgemein gültige Variante seiner Bedeutung denkt. Mythos, so will es unser Schulwissen, ist ein Märchen für Erwachsene. Also im Kern ein Dingsbums, das schlicht und einfach nicht wahr ist.
Ganz besonders wird aber das Wort „Mythos” immer in Bezug auf unsere Vergangenheit beziehungsweise unsere Vorfahren in dieser Vergangenheit benutzt. Niemand verbindet dieses Wort mit unserem aktuellen Hier und Jetzt. Mythos – das ist im Kopf des Lesers unweigerlich verknüpft mit „Es war einmal…”.
Die Griechen beispielsweise oder ihre Nachfolger, diese Römer. Oder deren Vorgänger in Babylon und die Ägypten. Sie alle lebten in einer Welt, die sich von unserer in einem Punkt sehr deutlich unterscheidet: Deren Welt beruhte auf Mythen, also Geschichten, die die jeweilige Kultur in ihrer Ausprägung entscheidend formten, aber eben nicht wahr waren.
Alle diese Kulturen haben als Basis ihrer Weltsicht also Annahmen, die nicht korrekt sind, die keinen Bezug zur Realität haben. Griechen, Römer, Ägypter und Babylonier – sie alle haben als Basis ihrer Überzeugungen an Götter und deren Beziehungen untereinander geglaubt, an den unmittelbaren Einfluß dieser oft in verwandschaftlichem Gezänk versackenden Gestalten, die sich in Menschen und Tiere verwandeln konnten, mit Blitzen werfen oder den Ozean zu gigantischen Wellen auftürmen.

Wir, also alle Menschen der heutigen sogenannten Moderne, unterscheiden uns da grundsätzlich von unseren in ihrer Primitivität doch etwas bedauernd zu belächelnden Vorfahren.
Wir haben all diesen abergläubischen Unsinn hinter uns gelassen und sind in eine völlig neues Zeitalter eingetreten. Die Aufklärung hat die Weihrauchwolken des Aberglaubens aus unseren Köpfen vertrieben, und was war das für ein harter Kampf.
Wir, die neuen Menschen der neuen Zeit, haben nichts mehr mit unseren Ahnen gemeinsam. Wir haben eine neue Weltsicht erschaffen auf Basis von Wissenschaftlichkeit.
Wir lassen unseren Alltag nicht mehr von putzigen Lügengeschichten über Götter und ihr Treiben beeinflussen. Wir haben die Dinge beobachtet, sie vermessen, sie in Hypothesen und Theorien gegossen, ihre Werte in Zahlen gefesselt und in Formeln gemeißelt, die unverrückbar anzeigen, wie das Universum tatsächlich funktioniert.

Wir glauben, Mythen gehören in die Vergangenheit. Diese Überzeugung ist falsch.

Menschen leben in Geschichten. Unsere gesamte Zivilisation lebt in Geschichten. Schon immer. Jedenfalls seit der Zeit, in der Sprache sich entwickelte und später Schrift erfunden wurde.
Um den Mythos an sich zu begreifen, ihn geistig in seinem Umfang und seiner Konsequenz zu erfassen, muß man sich vor Augen führen, wie wichtig er für Mensch ist und immer war. Geschichten sind die ursprünglichste Methode, der uns umgebenden, chaotischen und oft schwer verständlichen Welt eine Struktur zu geben, die Mensch mit seinem begrenzten Sinnen erfassen und auch verstehen kann. Die Geschichten, die eine zentrale Bedeutung für eine jeweilige menschliche Gesellschaft erlangen, sind diejenigen, die man mit der größten Berechtigung Mythen nennen kann.

Zu Zeiten des allseits gut bekannten griechischen Dichters Homer war das Verständnis des Wortes „μυθος” ein anderes als heute. Es bezeichnete keine im Kern unwahre Geschichte, sondern die Nacherzählung von vergangenen Ereignissen.
Da diese vergangenen Ereignisse, sagen wir, der Kampf um eine Stadt namens Troja, es aber wert waren, nacherzählt, oder besser, nachgesungen zu werden, mußten sie per Definition bereits wahr sein. Zumindest mit einer sehr hohen Wahrscheinlichlichkeit.
Auch die Tatsache, daß die mündliche Überlieferung vor der Schrift die einzige Form der Geschichte war, trägt hier zur Glaubwürdigkeit bei. Denn ein Rezitator durfte und konnte die Geschichte nicht einfach verändern.
Erstens kannte das Publikum die Geschichte vermutlich schon. Das läßt sich in Homers berühmter Ilias sehr schön erkennen, denn hier werden die Protagonisten nicht besonders großartig vorgestellt. Es gibt keine Passagen der Erzählung, in denen die Charakteristika des Protagonisten erst herausgearbeitet und dem Zuhörer Zug um Zug vorgestellt werden, so wie das in einem Roman mit einer Hauptperson der Fall wäre. Stattdessen geht die ganze Nummer gleich zur Sache und taucht direkt in die Geschehnisse ein, die im Falle der Ilias übrigens nur wenige Tage eines insgesamt zehnjährigen Krieges herausgreifen.
Zweitens ist die gesamte Geschichte in einer bestimmten Form gebunden, in Homers Falle eben in Hexameter. Diese erfordern diverse Kunstgriffe, beispielsweise das Verwenden bestimmter Wortpaare, die das Griechische schon immer aufgewiesen hat, so weit ich das weiß. Die „weindunkle See” wäre ein solches Wortpaar. Die „rosenfingrige Eos” ist im Griechischen eine Metapher für die Morgendämmerung, so wie in chinesischer Poetik der Mond eine Jadescheibe ist. Auf jeden Fall war es einem späteren Rezitator nicht möglich, die Geschichte einfach zu verändern, denn das hätte das Muster zerbrochen und wäre dem Publikum somit sofort aufgefallen.

Niemand hatte also zur Zeit eines Homer Zweifel daran, daß die hier rezitierte Geschichte sich auch wirklich so zugetragen hatte. Achilles, Ajax, Priamos und auch die schöne Helena – all diese Menschen hatten existiert und vor den Mauern einer Stadt ihre Kämpfe ausgetragen. Die Geschichte stammte aus der Vorzeit, sie wurde von Menschen gestützt, die allgemein als weise und gebildet angesehen waren, sie erschien plausibel im Kontext der damaligen Zuhörer, denn sie deckte sich mit ihrer Lebenswelt.
Kein Mensch hatte natürlich jemals Zeus persönlich Blitze werfen sehen oder war von einem Besuch der Aphrodite in seinem Schlafgemach beglückt worden. Aber die Erfahrung des jungen und tatkräftigen Erben eines Königs, der den Thron eines mittelmäßigen Königreichs übernimmt und erst einmal ein paar Schädel von unliebsamen Konkurrenten einschlagen muß, dürfte zur damaligen Zeit nicht ungewöhnllicher gewesen sein als für einen französischen oder englischen Bauern irgendwo zu feudalistischen Hochzeiten im 13. oder 14. Jahrhundert.
Hätte sich jemand aus unserer Zeit hingestellt und den homerischen Griechen erzählt, daß da irgendwer vermutlich einfach die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Realitäten der damaligen Zeiten genommen hat, um diese dann auf das Universum in seiner Unberechenbarkeit zu projizieren, um eine verständliche und nachvollziehbare Geschichte zu erschaffen, hätten die Zuhörer das vermutlich für absurd gehalten.

Natürlich spekuliere ich hier ein Stück und so mancher Historiker dürfte sich hier die Haare raufen. Ganz besonders, wenn ich an der Stelle hinzufüge, daß ich persönlich nicht einmal daran glaube, daß diese Stadt, die man seit einem Jahrhundert im Nordwesten der Türkei ausgräbt, irgendwas mit Troja zu tun hat. Hat sie nicht. Aber das nur am Rande.
Meine Spekulation erhält aber starke Unterstützung durch die parallele Rolle einer anderen Geschichte, die in unserer modernen Welt einen vergleichbaren Platz einnimmt.
Wie auch die Geschichte von Troja enthält sie Elemente, die kein heute Lebender jemals mit eigenem Auge betrachtet hat. Sie wird trotzdem für generell wahr gehalten, ebenso wie Homers Erzählung. Sie wird auch aus denselben Gründen für wahr gehalten: Menschen, denen eine allgemein hohe Glaubwürdigkeit bescheinigt wird, erzählen uns, sie sei wahr.
Weiterhin gewinnt auch diese Geschichte an Plausibilität wie die Troja-Geschichte Homers. Nämlich dadurch, daß ähnliche Dinge, wie sie in der Erzählung beschrieben werden, heute stattfinden. Die Geschichte scheint also die aktuelle Lebenswirklichkeit korrekt zu erfassen und zu beschreiben. Es erscheint also im Rückschluß nur vernünftig, wenn wir Menschen in diesem Moment annehmen, daß das Universum sich eben so abspielt, wie es uns diese Geschichte beschreibt.
Wenn ich mich vor das Publikum stelle und verkünde, daß diese Geschichte nur eine Projektion von gesellschaftlicher Struktur und Gewohnheiten auf das eigentlich chaotische Universum ist, begegnet man mir mit Unglauben. So wie Homers Griechen das auch getan hätten.

Der einzige echte Unterschied ist, daß Homers Geschichte in der Vergangenheit spielt. Historiker und Troja-Gräber der archäologischen Zunft vermuten, daß sich der Trojanische Krieg so um das Jahr 1200 vdZ abgespielt haben soll. Das wäre gute vier Jahrhunderte, bevor ein Homer das ganze in seine Verse geschmiedet hat.
Es paßt zu der Vermutung, daß hier eben etwas aufgeschrieben wurde, das dem damaligen Publikum als Erzählung, also bis dato mündliche Überlieferung, schon längst bekannt war.
Die andere Geschichte, dieser andere Mythos, hat die Eigenschaft, daß seine größten und wichtigsten Errungenschaften immer in der Zukunft stattfinden.

Gemeint ist der Mythos des Fortschritts.
Wir, die Menschen des modernen Zeitalters, dieses großartigen 21. Jahrhunderts ndZ, sind zutiefst von diesem Mythos geprägt. Er ist überall und dadurch so unsichtbar, daß ihn niemand – oder fast niemand – wirklich wahrnimmt.
Der Glaube besagt, daß die Geschichte der Menschheit eine lineare Entwicklung ist. Er besagt, daß sich die Menschheit aus ihren Anfängen in Elend und Leid durch unermüdliches Ringen mit den Kräften der Natur unweigerlich in das verwandelt hat, was wir heute sind: Mitglieder des Homo Colossus, der größten, unfaßbarsten und unwiderstehlichsten Rasse, die dieser Planet jemals gesehen hat. Wir sind der Natur nicht mehr unterworfen, wir sind selber eine Naturkraft geworden, die selbst geologische Zeitalter gebären kann.
Wir, die Menschheit des Anthropozän, sind emporgestiegen aus den dunkelsten Tiefen der Vergangenheit, haben mit der Kraft der Erleuchtung die Wissenschaft erfunden und das Universum unserem Willen unterworfen.
In einer endlosen Folge steigenden Wohlstands und sich vermehrenden Wissens haben wir mehr und mehr technologische Ausgereiftheit erreicht, um dieser unserer Welt unseren Stempel aufzudrücken.
Wir sind die logische Folge einer Geschichte, die gar nicht anders verlaufen konnte. Und nichts wird uns davon abhalten, in eine grenzenlose Zukunft zu schreiten.

0066-01 Ford Nucleon

Bild 1: Das Morgen von gestern – Version 1957.
In diesem Jahr kündigte Ford ernsthaft den Bau eines atomar angetriebenen PKW an, den Ford Nucleon. Wie man sieht, hat die Werbung damals ganz schön auf den Putz gehauen. Die einen glauben an die Wiederkunft Christi am nächsten Sonntag, die anderen an Nuklearautos. Das Ergebnis ist in beiden Fällen gleich.

Das ist der moderne Mythos des Fortschritts, in dem wir uns alle bewegen. Allerdings darf man das nicht so nennen, ohne sofort von allen Seiten mit Schlamm beworfen zu werden. Denn – wir erinnern uns kurz – ein Mythos ist ja im Kern nicht wahr nach unserem heutigen Verständnis. Es liegt im Wesen des Mythos, im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit mit der Gesellschaft zu verschmelzen, die er trägt. So wie die Griechen niemals geglaubt hätten, daß die Geschichte mit dem Trojanischen Krieg eventuell erfunden sein könnte, so glaubt unsere Gesellschaft heute an den Mythos des Fortschritts, ohne ihn zu erkennen, weder in seiner Form noch seiner Gegenwärtigkeit. So wie ein Isaac Newton keinen Zweifel an der Existenz Gottes gehabt hat, denn die Gegenwart Gottes galt in diesen Zeiten als so selbstverständlich, daß es darüber einfach keine Diskussion gab.

Wir erkennen die Gestalt unserer Mythen nicht. Wie jede andere Zivilisation vor uns sind wir blind.

Und so wird die Predigt des Fortschritts verkündet von Hohepriestern in Laboren. Niedergeschrieben zur Verkündung unserer Großartigkeit in wissenschaftlichen Papers – nach einem strengen peer-review-Verfahren, versteht sich.
Dem Volk nahegebracht von einer Kaste aus politischen und wirtschaftlichen Eliten, den Adligen und Grundbesitzern der unfeudalen Jetztzeit.
Ja, diese Sache mit dem Fortschritt hat längst die Rolle einer Religion übernommen in diesem 21. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, die wir inzwischen nach streng astronomischen Gesichtspunkten einteilen natürlich. Vom Nullpunkt des Kalenders einmal abgesehen, der hat wenig wissenschaftliches Fundament.
Selbstverständlich gibt es auch hier Kritiker, es gibt Häretiker und Ketzer, wie bei jeder Religion. Es gibt andere Erzählungen, die mit der dominanten Geschichte konkurrieren, die eine Alternative anbieten wollen zum Verständnis des Kosmos. Das ist bei jedem dominanten Mythos jeder beliebigen Zeit der Fall gewesen. Jede Religion gebiert in ihrer Konkurrenz auch immer die jeweilige Anti-Religion.
Aber diese anderen Narrative sind bedeutungslos im Angesicht der Stimmen der Hohepriester, die immer wieder in salbungsvollen Tonfall verkünden, daß der nächste große Schritt zur Erlösung nur noch ein oder zwei Experimente entfernt ist.
Die Zukunft des sich ins Endlose erstreckenden Aufstiegs, die Zukunft des „immer besser”, dient gerne als Rechtfertigung für das Jetzt, das – wenn man es mal kritisch betrachtet – manchmal nicht immer so großartig ist.
Rückschläge, alles kleine Hindernisse auf unserem Weg zu den Sternen”, so verkünden die Hohepriester.
Bald schon, sehr bald, wird die Erlösung Form annehmen, werden Armut, Hunger, Krankheiten und Ungerechtigkeiten für immer aus der menschlichen Welt verbannt sein.

0066-02 Die Stadt von morgen

Bild 2: Das Morgen von gestern – in der derzeit aktuellen Version.
Ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß dieses Bild in 50 Jahren so überholt sein wird wie das eines atomar angetriebenen Autos. Es wird in fünfzig Jahren noch Städte geben. Aber keine von ihnen wird so aussehen.

Unsere modernen Wissenschaften sind ein Erlösungsszenario, wie in so vielen Religionen. Nichts anderes.
Unglücklicherweise bringt mich das auch zu dem heute gültigen Inhalt des Wortes „Mythos” zurück: Es bezeichnet eine Geschichte, die nicht wahr ist. Es ist ein Märchen. Und Märchen enthalten immer unmögliche Dinge, seien es Haustiere in Stiefeln mit enormer Schrittlänge oder Bohnenranken, die schneller an Höhe gewinnen als moderne Kampfjets.

Bedeutet das etwa, ich bin ein Technikfeind? Ein Maschinenstürmer?
Einer von denen, die von den Inqusistoren des Mythos des Fortschritts immer wieder zu hören bekommen, sie wollten die Menschheit in Höhlen zurück verbannen?
Einer von denen, die uns in die dunkle Vergangenheit aus Leiden und Schmerz zurückwerfen wollen, um irgendeinem obskuren Prinzip von Reinheit Geltung zu verschaffen?

Um die Antwort möglichst kurz zu gestalten: Nö. Eher mal nicht.

Denn aktuell sitze ich an einer Maschine, nämlich dem eingangs schon erwähnten Computer. Eine andere Maschine ist fleißig damit beschäftigt, meine Wäsche in geheiztem Wasser hin und her zu wälzen, auf das ich sie nachher gereinigt entnehmen kann und auf den Wäscheständer hängen. Nein, ich besitze keinen Kondenstrockner oder so einen Blödsinn. Es ist ein sonniger Tag und ich habe Platz, um Wäsche rauszuhängen, warum sollte ich da ein lärmendes Gerät benützen, das unnötig Strom verbraucht?
Übrigens wäre diese Art zu denken für einen Anhänger der Religion des Fortschritts aus den USA bereits Ketzerei. In diesem Land da hinter dem Atlantik gibt es kommunale Vorschriften, die einem das Raushängen der eigenen Wäsche auf dem eigenen Grundstück verbieten. Für eine derartig von als „Individualismus” getarnter stumpfer Borniertheit befallenen Nation wie den USA ein erstaunlicher Eingriff in Dinge, die keinen was angehen.
In diesem besagten Computer verrichtet ein Laser seine Arbeit, um DVDs zu lesen nämlich. Ebenso wie an der Supermarktkasse. Autos fahren durch die Gegend, die heutzutage Laserlicht mit sich führen, um einem noch mehr auf die Eier gehen zu können, als das mit Xenon-Scheinwerfern jemals der Fall war.
Die Erde kreist um die Sonne und mit einem Programm in meinem Computer kann ich genau sehen, wie der Sternenhimmel am 26. Mai 2116 aussehen wird, wenn ich auf meinem Balkon stünde, was dann aber nicht mehr geht, weil ich schon längst nicht mehr lebe. Wahrscheinlich ist dann selbst der Balkon längst Geschichte.
Diese Dinge funktionieren, weil ein Typ namens Newton und ein Typ namens Einstein über solche Dinge nachgedacht haben wie Gravitation und Licht und daraus Formeln entstanden sind, die ganz prima zur Vorausberechnung von Dingen geeignet sind.
Als man mir vor ein paar Jahren die Hand aufschneiden mußte, hat sich der Onkel Doktor vorher gründlich die Finger gewaschen und mit sauberen, sehr scharfen Instrumenten gearbeitet. Das hat er gemacht, weil wir heute um die Existenz kleiner Tierchen mit vielen Beinen, Geißeln und Fühlern wissen, die verdammt unangenehm werden können, wenn sie in eine Operationswunde gelangen.
Außerdem hat mich ein anderer Onkel Doktor vorher betäubt, ich habe während des Eingriffs angenehm geschlummert. Beide Doktoren haben vorher eine entsprechende Ausbildung erhalten und waren keine besseren Pferdemetzger, wie das noch 1850 der Fall gewesen wäre.
Und ich bin quasi nur eine Minute nach dem Zusammennähen wieder wach geworden. Moderne Anästhesie ist spitze. Als ich mit neun Jahren an einer akuten Blinddarmentzündung erkrankte, hat man mich noch mit etwas betäubt, das vermutlich für ein tollwütiges Nashorn genügt hätte. Jedenfalls fühlte es sich noch tagelang so an.

Ich bin also, um es ganz allgemein zu formulieren, von den Erkenntnissen moderner Wissenschaften und ihrer Ergebnisse durchaus erbaut. Fast könnte man sagen, als SF-Leser seit mehr als 30 Jahren muß ich geradezu ein Fan der Religion des Fortschritts sein. Ein Akolyth, sozusagen. Ich bin immer wieder beeindruckt von Dingen, die unser Verständnis des Universums geschaffen hat.
Das ist das Überzeugende an der Religion des Fortschritts: Sie hat Ergebnisse vorzuweisen.
Und man kann als normaler Mensch daran teilnehmen. Ich habe keine Ahnung davon, wie viele Dinge funktionieren, aber trotzdem kann ich Auto fahren. Ich bin in der Lage, irgendwohin zu fliegen. Oder besser, ich wäre es, würde ich die Fliegerei nicht sehr hassen. Ebenso wie die Fußballmannschaft, die gerade einen Titel gewonnen hat, schafft es die Religion des Fortschritts, immer wieder dieses typische „Wir” zu erzeugen, das sehr bald auch wieder 40 Millionen Bundestrainer hervorbringen wird. Ja, 40 Millionen, denn nur etwa die Hälfte aller Deutschen ist männlichen Geschlechts und Frauen haben ja erwiesenermaßen keine Ahnung von Fußball.
Die Hohepriester des Fortschritts benötigen keine Wunder, also von drogenverseuchten Hirtenkindern bezeugte Marien-Erscheinungen an irgendeiner Stadtmauer oder cleveres Quellen-Marketing in Lourdes ohne Wirkungsnachweis.
Nein, die Religion, der Mythos des Fortschritts hat handfeste Dinge hervorgebracht, die man in ihrer Existenz nicht wegleugnen kann. Sofern man kein Kreationist ist, der behauptet, die Erde sei 6.000 Jahre alt und Wissenschaften nur eine Einbildung, während er im klimatisierten Haus in Florida hockt und das Internet benutzt, um zu beweisen, daß die Erde außerdem keine Kugel sein kann.

Nein, zu dieser Sorte Menschen gehöre ich eindeutig nicht. Dummerweise bin ich deswegen trotzdem nicht der Meinung, daß all dieses Zeug mit dem Fortschritt immer so weitergehen muß. Wenig überzeugend finde ich auch das Hauptargument, das in endlosen Variationen immer wieder vorgebracht wird: „Das war doch schon immer so.”
Denn das war es nicht. Weder ist die Vergangenheit der finstere Ort voller ungeheizter Höhlen und stinkenden Barbarentums, als der sie von den Hohepriestern immer dargestellt wird. Noch ist die Zukunft das strahlende Utopia, in dem eine unsterbliche Menschheit ihr Schicksal bei der Besiedlung der Galaxis erfüllen wird, unaufhaltsam und vorherbestimmt.
Exakt das ist nämlich der Kern des Mythos, der unsere Zeit prägt. Es wird immer so sein, weil es immer so war – so ist die Überzeugung eines Großteils der Menschen auf diesem Planeten, ganz speziell natürlich in den überentwickelten Ländern.
Deutet man auch nur zärtlich an, daß eine ewige Vorwärtsentwicklung unwahrscheinlich erscheint, wird man rundheraus ausgelacht.
Vertritt man – wie ich es hier und jetzt tue – die Überzeugung, daß unsere technologische Entwicklung in nicht allzu ferner Zukunft zu einem recht plötzlichen Halt kommen wird, wird man üblicherweise aktiv angefeindet.

Gerade eben habe ich mitten in die Lesung der Messe hinein laut in das Kirchenschiff gebrüllt: „Gott ist tot!”
Die gesamte Gemeinde ist entsprechend empört, zumindest der Teil, der nicht einfach vorgibt, ich hätte gar nichts gesagt.

Aber damit nicht genug der Ketzerei. In dieser nicht allzu fernen Zukunft werden wir sogar gezwungen sein, uns mit Methoden der Landwirtschaft und anderen Dingen zu beschäftigen, die – ich mag es kaum sagen – aus der Vergangenheit stammen! Denn Fortschritt ist weder linear noch zwangläufig ewig. War er niemals. Und er hat einen Preis. Für all diese Dinge kann ich in der Geschichte problemlos Dutzende Beweise finden.
Spätestens jetzt würde in der allseits berühmten „Jehova”-Szene der Kameraschnitt kommen, wenn die aufgeregte Religionsgemeinde mich unter einem recht großen Stein begräbt, damit man in Ruhe mit der Huldigung der Götter des Fortschritts fortfahren kann.
Denn auch das gehört zum Mythos dazu: Die Vergangenheit kann gar kein Ort sein, an dem wir Lösungen für ein Problem suchen. Denn das Dogma des Fortschritts lautet, daß eine neue Technologie immer besser ist als eine alte. Weil sie neu ist. Es ist also vollkommen unmöglich, in vergangenen Zeiten etwas zu finden, das für uns heute nützlich sein könnte. Geschweige denn, daß es womöglich nützlicher sein könnte als die aktuelle, wunderbar neue Lösung, die uns von den Priestern des Fortschritts in strahlendem Schweinwerferlicht präsentiert wird.

Fortschritt als Religion? Priester? Hohepriester? Dogmen? Erscheint das nicht alles ein wenig übertrieben, hysterisch vielleicht sogar?

Jedem, der das annimmt und der mich während dieses Textes bereits mehrfach als Spinner bezeichnet hat in seinem Kopf, empfehle ich, bei der nächsten Präsentation der neuesten Produkte von Apple mal in die Konferenz zu schalten. Denn dieses unfaßbar wertvolle Ereignis wird heutzutage im Livestream im Internet übertragen. Da steht ein dürrer Mann in Jeans auf einer hell erleuchteten Bühne und hält ein Tablet hoch, als wäre er Moses höchstselbst, der soeben vom Berge Sinai hinabgestiegen ist, um der Menge die Gebote des Herrn zu verkünden. Jetzt in noch höherer Auflösung, versteht sich.
Danach wäre zum Vergleich eine Messe sehr brauchbar, irgendwo in einer dieser gigantischen Treibhaus-Kathedralen, die im amerikanischen Süden oder im bibelfesten Mittelwesten so rumstehen und die Platz bieten für diverse tausend Menschen.
Wenn mir hinterher jemand glaubhaft zeigen kann, wo denn genau der Unterschied sein soll zwischen dem Chef der Computerfirma, der prophetengleich das neue, jetzt wieder kleinere iPhone hochhält und dem Reverend, der der Gemeinde von Gott, den Engeln und der Berufung des Menschen predigt, dem gebe ich ein Eis aus.
Gut, der Priester hätte vermutlich Probleme damit, seiner Gemeinde zu sagen, daß er schwul ist. Aber das zählt in diesem Zusammenhang nicht.

Spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hat Mensch den Glauben an den ewigen Fortschritt, den Glauben an das bessere Morgen, den Glauben an die Erlösung nicht durch die Wiederkunft Christi, sondern durch immer neuere und deshalb immer bessere Technologie als Ersatzreligion angenommen. Nietzsche hatte nicht recht, als er sagte: „Gott ist tot.”
Gott ist heute Softwareentwickler. Oder Plasmaphysiker. Oder ein Level 319-Charakter in World of Warcraft, wer vermag das so genau zu sagen?


Das Beitragsbild ist von Wladimir Manyuhin. Den Künstler findet man beispielsweise hier.

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