„Our 21st century economy may focus
on agriculture, not information.”
James Howard Kunstler
Fortschritt ist etwas, das genauer betrachtet werden muß. Fragt man ein Dutzend Menschen, was genau er denn sein soll, dieser Fortschritt, bekommt man ungefähr zwei Dutzend Antworten. Selbst dann, wenn sich unter den Befragten kein einziger Arzt oder Anwalt befindet.
Viele Antworten laufen darauf hinaus, daß früher – wann immer genau dieses früher jeweils stattgefunden haben soll – ja alles viel mühsamer gewesen ist.
Da mußten Menschen auf Feldern arbeiten, um irgendwie Nahrung für andere zu erzeugen. Oder es gab keinen elektrischen Strom, geschweige denn in jedem Haus oder jeder Wohnung ein Badezimmer. Menschen starben an Krankheiten, die heutige Ärzte nicht mal mehr richtig diagnostizieren könnten, weil sie die niemals in ihrem Leben zu Gesicht bekommen.
Mühselig mußte man mit der Hand Wäsche waschen, den Boden kehren statt staubsaugen oder in heutigen Zeiten von einem dieser idiotischen Staubsaugerroboter saugen zu lassen.
Ausnahmslos alle diese Antworten zielen ein wenig am Kern der Sache vorbei, was aber auch kein einziger der Antworter bemerkt hat.
Alle diese Antworten beantworten die Frage: „Glaubst du daran, daß es Fortschritt gibt?”
Diese Frage habe ich aber nie gestellt. Meine Frage lautete „Was ist Fortschritt?”
Natürlich gibt es Fortschritt, wenn man diesen Begriff als Entwicklung von einer Technologie zur nächsten auffaßt. Wer vorher nur Holzspeere benutzt hat, wird ein Speerblatt aus Stein großartig finden. Wer vorher nur eine Steinaxt hatte, der wird von einer Bronzeaxt geradezu begeistert sein. Und dieses Eisen erst, unglaubliches Metall!
Genau so verstehen die Menschen heutzutage „Fortschritt”. Als lineare Entwicklung von etwas, das irgendwie weiter unten steht, zu etwas, das irgendwie besser sein soll. Vor dem Dampfschiff gab es Segelschiffe und davor mußte man halt Rudern. So ungefähr läuft der Gedankengang im Kopf der Menschen ab.
In Wirklichkeit ist Fortschritt eher etwas Abstraktes. Niemand – oder zumindest nur sehr wenige Menschen – scheinen die Frage zu stellen, wer denn eigentlich bestimmt, daß etwas Technologisches jetzt so klar und eindeutig besser ist. Nach welchen Kriterien wird das beurteilt und von wem?
Wie so oft denken Menschen nicht über so etwas nach, sondern nehmen ein bestimmtes Bild und projizieren es auf den jeweiligen Begriff. Dieses Bild haben sie sich nicht selber ausgedacht, jedenfalls in den meisten Fällen. Man hat es ihnen beigebracht, entweder die Eltern oder die jeweilige Umgebung, in der man eben als Kind und Jugendlicher so rumfällt.
Wir Menschen neigen nicht dazu, in konkreten Begriffen oder Bezügen zu denken. Wir denken in Kulissen. Im Grunde genommen ist das sogar so vorgesehen. Neurologen haben schon vor einer Weile herausgefunden, daß menschliche Wahrnehmung gar nicht darin besteht, die eigene Umwelt genau zu prüfen und diese Daten dann im Gehirn zu verarbeiten.
Stattdessen nimmt unser Gehirn einfach einen Großteil dessen, was es von außen zugeführt bekommt, und wirft es in den Papierkorb.
Unser Gehirn ist also gar kein großer Beobachter der Umwelt, sondern ein großer Ignorierer der Umwelt.
Diese neurologische Erkenntnis erklärt auch, wieso ein mp3-Player uns ordentliche Musik ins Ohr spielen kann. Denn eigentlich läßt dieses allseits beliebte Musikformat ja etwa 90 Prozent der Information weg, die in einem aufgezeichneten Stück Musik so drinsteckt.
Trotzdem klingt diese Musik immer noch wie Musik, wenn wir sie danach hören. Wie kann das sein? Lassen sie mal beim Kaffee 90 Prozent des Geschmacks weg, bei der Schokolade 90 Prozent zarten Schmelzes oder beim Sex 90 Prozent des Spaß.
Die Menschheit würde ein verdammt unglückliches Gesicht ziehen, bevor sie dann mangels Sex ausstirbt. Bei Musik scheint das Weglassen eines sehr großen Teils der Information nicht zu stören. Wenn das Tschaikowski oder Mozart gewußt hätten.
Wahrnehmung besteht für uns Menschen zum Großteil aus dem Ausblenden von Information.
Der Trick besteht darin, daß unser Gehirn einfach die fehlenden Informationen ergänzt. Was selbst bei jemandem funktioniert, der keine Noten lesen kann und niemals ein Instrument gelernt hat, also mir, zum Beispiel.
Diese Art der Datenverarbeitung durch massive Reduktion und späteres Ergänzen durch Interpolation macht einen guten Teil der Tätigkeit unseres Kopfes aus.
Und lassen Sie sich nicht erzählen, wir nutzten nur 10 Prozent unseres Gehirns. Das ist auch so ein Mythos, der immer gerne geglaubt wird, aber eben ein Mythos. Selbst strohdumme Menschen verbrauchen etwa 25 Prozent der täglichen Energieaufnahme für ihr Gehirn. Man schaue sich Politiker weltweit an – die meisten dieser Typen sind ziemliche Vollpfosten, aber selbst die sind in der Lage, einen Baum zu erkennen.
Wobei sie das gar nicht tun. Was wir erkennen ist etwas wie ein Bühnenbild: Grün. Braun. Grün oben. Groß. Steht in Gruppen.
Unser Gehirn macht aus diesen lässigen Wischi-Waschi-Wahrnehmungen dann „Wald”. Und exakt das erkennen wir dann auch, während das Gehirn uns erfolgreich einredet, wir hätten das die ganze Zeit schon so gesehen.
Diese Funktionsweise führt dazu, daß wir Menschen auf alles sehr empfindlich reagieren, was vom üblichen Bild, dem üblichen „Setting”, um mal den entsprechenden Begriff zu verwenden, abweicht.
Wenn dieses Bühnenbild aussieht wie immer, sagen wir, wie das Bühnenbild „Marktplatz voller Menschengeknubbel”, nehmen wir einen Großteil unserer Umwelt nicht wahr. Das Gehirn kriegt grobe Daten geliefert und macht daraus das entsprechende Bild, und zwar noch während wir uns mit der Frau am Gemüsestand über das Wetter unterhalten und fragen, wann denn die Zucchini in diesem Jahr soweit sind.
Wird dieses Setting durch etwas Ungewöhnliches unterbrochen, sagen wir „schnell heranrasendes Auto von links”, dann hält sich unser Gehirn nicht mit so tiefsinnigen philosophischen Fragen auf wie: „Ein Auto? Hier? Ist doch ′ne Fußgängerzone.”
Unser Gehirn sagt unseren Beinen, daß sie den restlichen Körper mal massiv in eine ausweichende Richtung beschleunigen sollten, und zwar Zack-Zack.
Das Auto verfehlt uns knapp, Glück gehabt. Beziehungsweise richtig reagiert.
Evolutionsbiologen gehen davon aus, daß unser Gehirn sich solche Dinge vor ein paar Millionen Jahren angewöhnt hat, als unsere Vorfahren noch durch Felder und Savannen streiften und ebensogut selbst von etwas gefressen werden konnten wie selber zu jagen und was Leckeres auf den Grill zu kriegen.
Das Dumme ist, diese Funktionsweise hat sich nicht wirklich verändert. Das kann dazu führen, daß Menschen beim Autofahren nicht auf ihre Umgebung achten, den Radfahrer in Querfahrt nicht wahrnehmen und ihn voll ummangeln, um dann aus ihrem Auto zu steigen und solche Sachen zu sagen wie „Huch, ich hab’ sie ja gar nicht gesehen.”
Das hat man als Betroffener dann natürlich bereits bemerkt, wenn einem gerade drei Tonnen schwachsinniger Hausfrauen-Pseudo-Offroader auf den Rippen stehen. Aber Menschen neigen auch gerne dazu, das Offensichtliche zu betonen, während man gerade leise auf dem Radweg verblutet.
Wie zum Beispiel, daß der autofahrende Idiot die drei Verkehrsschilder, die recht deutlich auf die Vorfahrtssituation hinweisen, wohl auch nicht gesehen hat.
Das passiert, weil sowohl die Abstraktion „Verkehrsschild” als auch „Radfahrer” in dem Moment ins Gehirn gefüttert worden sind und keine Reaktion ausgelöst haben, denn beide gehören ja zum Setting „Straßenverkehr” und zwar als durchaus normale Bestandteile.
Der erste Nachteil ist also, daß eben nur Abweichungen vom Normalen eine plötzliche Reaktion auslösen. Routine kann einschläfernd sein. Der zweite Nachteil ist, daß dieser Mechanismus nur für kurzfristige Veränderungen etwas taugt. Aber darauf komme ich woanders noch einmal zurück.
„Fortschritt” ist also ebenfalls ein Setting, ein Bühnenbild, verbunden mit ganz bestimmten Vorstellungen oder Wahrnehmungsrastern im Kopf.
Einfache Blockhütten und Wald = einfache Gesellschaft.
Riesige Wolkenkratzer auf derselben Halbinsel, bevölkert von Wahnsinnigen = hochentwickelte Gesellschaft.
Beides beschreibt Manhattan, nur eben in verschiedenen Jahrhunderten. Das ist ein weiterer unabdingbarer Punkt des Bühnenbildes. Es muß genug Zeit vergangen sein, um Fortschritt glaubhaft werden zu lassen. Fortschritt kann also niemals nach hinten stattfinden, wie das Wort Fortschritt ja bereits andeutet.
Aber ist diese Vorstellung richtig?
Eigentlich nur begrenzt, denn es handelt sich ja, wie bereits erwähnt, um eine Abstraktion. Und eine Abstraktion kann keine genaue Wiedergabe der Wirklichkeit sein, das wäre ein Widerspruch in sich.
Vor etwa 130 Jahren beschwerten sich die Einwohner New Yorks zum Beispiel gerne und ausgiebig über den Dreck, den Lärm und den Gestank in ihrer Stadt.
Das Getrappel der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, das Rattern der Fuhrwerke und Kutschen und die Tonnen von Pferdemist und Pferdepisse, die jeden Tag von den entsprechenden 1-PS-Maschinen abgesondert wurden, waren sicherlich auch ein guter Grund zu dieser Beschwerde.
Menschen, die heute irgendwie mit Pferden rummachen, halten das möglicherweise für ein romantisches Hobby. Mehrere Hunderttausend dieser Viecher in einer großen Stadt haben wenig Romantisches und vor allem duften sie bestimmt auch nicht wirklich nach Rosen.
Aber die Rettung nahte in Gestalt eines unauffälligen Mannes hier in Deutschland. Carl Benz erfand den internen Verbrennungsmotor. Die Kraft eines Pferdes, ja sogar mehrerer Pferde, in einem Block aus Metall und einigen beweglichen Teilen.
Das ganze unter eine Kutsche montiert, noch ein paar Hebel zur Steuerung – et voilà – das Automobil war erfunden.
Auch so ein cleverer Werbename übrigens, denn eigentlich heißt „Automobil” ja „das sich selbst Bewegende”. Was natürlich völliger Blödsinn ist, denn die Dinger müssen bis heute von einem Fahrer bedient werden, die fahren gar nicht selbst.
Im Laufe der weiteren Jahre jedenfalls wurden von diesen Kutschen ohne Pferde einige mehr gebaut als erwartet, schließlich wurden sie in der Form angepaßt und irgendwann gelangte diese Erfindung, für die man anfangs den Sprit übrigens noch in der Apotheke kaufen mußte, dann auch in die USA.
Dort stürzte man sich begeistert auf diese Neuheit und fing an, das Zeug ebenfalls zu produzieren. Ein Mann namens Henry Ford erfand dazu 1913 extra das Fließbandprinzip in seinen Fabriken. Damit war in Gefolge des Autos auch gleich die Massenproduktion entwickelt worden. Der Preis eines Ford T fiel von irgendwas um die 3500 Dollar im Jahre 1913 – ein Heidengeld damals – auf etwa 800 Dollar im Jahre 1920. Ford hatte stets propagiert, daß seine Mitarbeiter in der Lage sein sollten, sich die Produkte auch zu kaufen, die sie da herstellten, eine durchaus nicht ganz unkluge Grundeinstellung für einen Unternehmer. Die Massenproduktion versetzte ihn in die Lage, dieses Geschäftsversprechen tatsächlich zu halten.
Nicht immer ist Fortschritt so ohne weiteres erkennbar. Oder besonders überzeugend.
Heute, im Jahr 2015, beschweren sich New Yorker immer noch über den Dreck, den Gestank und den Lärm in ihrer Stadt. Der Fortschritt hat also einen relativ leicht aus nachwachsenden Rohstoffen herstellbaren Transporter – eine Kutsche oder einen Karren – in etwas verwandelt, in dessen Herstellung ein geradezu wahnwitziger Aufwand fließt und dessen Unterhalt ebenfalls nicht unproblematisch ist. Und dabei vermehren sich Autos noch nicht einmal von selbst, selbst wenn dieser Eindruck manchmal entstehen könnte.
Einige Polizeieinheiten reiten aber immer noch auf Pferden. Möglicherweise sind sie ihrer Zeit nur voraus.
Es gibt eine ganze Palette solcher Beispiele. Als Mann hatte man früher einen Rasierpinsel, Rasierseife und ein gefährlich scharfes Messer im Badezimmer, mit dem man sich entweder fies schneiden oder eben auch rasieren konnte.
Heutzutage lauert da ein Fertigrasierer mit siebenunddreißigfach veredelter 5fach-Klinge neben einer Sprühdose, deren Inhalt unter Druck steht und in einer Chemiefabrik hergestellt worden ist – ebenso wie der Druck.
Wenn man die Energie, die für die Herstellung dieser Produkte aufgewendet wurde, in Rasiermesser, Rasierpinsel und Seife umwandelte, hätte man vermutlich einen 10-Jahres-Vorrat von dem Zeug da liegen. Ganz besonders, weil man ein altertümliches Rasiermesser problemlos schärfen kann, ganz im Gegensatz zu einer modernen Multi-Dingsbums-Klinge. Dazu kommt noch, daß man mit der modernen Klinge einfach nie eine so gründliche Rasur hinkriegt wie mit dem Rasiermesser von Opa.
Mehr Energieverbrauch, dazu jede Menge Erdöl. Aus irgendwas muß der Kunststoff der Rasierer ja gemacht sein, der Schaum in der Dose übrigens auch. Die Dose wiederum besteht aus Metall, üblicherweise Aluminium, und muß ja auch irgendwo hergestellt worden sein. Das Ganze für eine schlechtere Rasur und – den Faktor habe ich noch nicht erwähnt – höhere Kosten.
Die Rasur mit den heutigen Plastikrasierdingern kostet mich als Mann unterm Strich eindeutig mehr Geld als Opas Rasiermesser, der Pinsel und die Seife. Auch das noch. Gesegneter kann Fortschritt überhaupt nicht sein.
Fortschritt, so will es das heutige Verständnis, bedeutet nichts weiter, als irgend etwas, das als „alt” definiert wird, durch etwas zu ersetzen, das als „neu” definiert wird. Diese Definition, um auf die weiter oben genannte Frage zurückzukommen, wird nicht etwa von Fachleuten der Wissenschaften vorgenommen, sondern von Propagandaabteilungen der Konzerne, die das entsprechende Dingsbums herstellen. Man nennt das Marketing, nicht Propaganda, aber das ist auch schon der einzige Unterschied.
Die Ökonomen behaupten dann immer noch, das neu auch selbstverständlich besser bedeutet, wer würde daran zweifeln?
Nun, zumindest auf meine Rasur trifft das eindeutig nicht zu. Auch das mit dem Auto erscheint zweifelhaft. Früher brauchten Menschen einen Tag, um 50 Kilometer zurückzulegen. Dann haben wir das Auto erfunden und so viele von den verdammten Dingern gebaut, daß man heute wieder einen ganzen Tag braucht, um 50 Kilometer zurückzulegen.
Irgendwann in den 70er Jahren hatten wir Menschen gelernt, wie man die Technik großer Filmkameras für das Wohnzimmer verfügbar machen konnte. Aufgezeichnete Bilder auf einem relativ kompakten Medium, verbunden mit einem Abspielgerät für daheim. Der Videorecorder war erfunden worden.
Dummerweise gab es da einige Systeme, die miteinander konkurrierten. Wer wie ich in dieser prähistorischen Zeit aufgewachsen ist, kann sich möglicherweise an solche Namen wie Betamax oder Video 2000 erinnern. Dazu gab es natürlich noch das VHS, das Video Home System.
Hinter jedem dieser Formate steckte eine andere große Firma und – so sagt uns das Gesetz der Ökonomen – natürlich hat der Markt dafür gesorgt, daß sich das beste dieser Systeme durchgesetzt hat, nämlich VHS.
Mit seiner kürzeren Spielzeit und absolut lausigen Bildqualität in Verbindung mit dem grauenhaft flimmernden Standbild war VHS dem hochauflösenden Betamax klar unterlegen. Trotzdem ist es heute genau das, was man im Kopf hat, wenn jemand „Videorecorder” oder „Videokassette” sagt – falls man alt genug ist, um ohne Wikipedia zu wissen, was das ist.
Dabei konnte die letzte Version des Betamax-Systems mit ihrer Auflösung sogar mit heutigen DVD oder Digitalem Video konkurrieren, und das vor 30 Jahren.
Doch die Kräfte des Heiligen Freien Marktes und des Fortschritts haben anders entschieden.
Was daran liegen könnte, daß Sony, das war die Firma hinter Betamax, darauf bestanden hatte, daß jeweilige Vertriebspartner im eigenen Land eine Produktionskette aufbauen mußten, also sowohl für die Bänder als auch für die Rekorder. Für den Bau der Rekorder war außerdem eine Lizenz erforderlich.
JVC, die Firma hinter VHS, übernahm diese Dinge für ihre Vertriebspartner, produzierte also zentral und kümmerte sich erst einmal nicht wirklich um Lizenzen. Diese Jungs haben also ihr System quasi verschenkt.
Damit war der Tod der Konkurrenz vorprogrammiert. Die Preise sanken, der Marktanteil von VHS wurde größer und größer und dann kam in der ersten Hälfte der 80 Jahre etwas auf, daß es heute schon nicht mehr gibt: Die Videothek.
Der Ort, an dem man sich Filme für zu Hause ausleihen konnte, also quasi das Netflix der Analogzeit.
In diesem Moment war der Kampf entschieden, auch wenn die anderen Firmen das noch nicht wahrhaben wollten. Denn die Pornoindustrie setzte natürlich auf das am weitesten verbreitete Format und das war zu diesem Zeitpunkt mit großem Abstand VHS. Auch der Preiskampf war entschieden, denn durch die Massenfertigung war der Preis eines Rekorders und der Preis für Kassetten so weit gesunken, daß man jetzt sogar Lizenzgebühren kassieren konnte, ohne daß das dem Endkonsumenten großartig aufgefallen wäre.
Und so trat das VHS-Videoband seinen Siegeszug über die Welt der analogen Aufzeichnungen an, trotz seiner grottigen Eigenschaften und gruseliger Qualität. Wieder einmal hatte der Fortschritt gesiegt und etwas Besseres erschaffen.
Statt stinkender und lärmender Pferde auf Kopfsteinpflaster haben wir heute stinkende und lärmende Autos auf gefühlten Milliarden Kilometern zugeteerter Landschaft. Rasieren kann man sich auch nicht besser als früher. Und das beste Produkt landet oft im Graben und nicht in den Verkaufscharts.
Irgendwas scheint also an der Geschichte vom Fortschritt, wie sie uns immer wieder verkauft wird, nicht zu stimmen.
Versuchen wir es also mal anders. Vielleicht ist Fortschritt ja nur etwas, daß das Leben bequemer macht. Einfacher. Billiger vielleicht.
Gut, es ist sicherlich einfacher, heute ein Auto zu fahren, als ein Pferd einzuspannen. Letzteres habe ich jedenfalls nie gelernt. So etwas wie Elektrizität macht das Leben eindeutig einfacher. Denn ansonsten würde ich das hier nicht an einem Computermonitor schreiben, sondern vor einer mechanischen Schreibmaschine sitzen. Ich habe übrigens das Tippen auf so einem Ding gelernt, oder besser, mir beigebracht.
Der Vorteil ist, die Schreibmaschine würde auch ohne Strom weiter funktionieren. Mein Computer ist ohne Strom ein teurer Briefbeschwerer. Elektrische Dosenöffner funktionieren nicht besser als mechanische. Sie brauchen nur Strom und sind komplizierter herzustellen.
Meine Kaffeemaschine war früher ein Dingsbums, in das man Wasser einfüllte und anschließend einen Papierfilter dazugab, bestückt mit Kaffee. Einfache, leicht zu erlernende Handgriffe.
Danach wurde heißes Wasser durch Pulverkaffee geschleust und unten kam Kaffee raus. Die Maschine war simpel und effektiv, alle Teile waren gut erreichbar und recht haltbar und es waren relativ wenige Teile.
Heutzutage kaufen Menschen eine Maschine, die in etwa so aussieht wie der Primärkühlkreislauf eines Kernkraftwerks und die elektronisch geregelt ist. Was das Ding elektronisch regelt, verrät uns kein Mensch.
Dann kann man entweder Kaffeebohnen in einen Behälter schütten und verzückt zusehen, wie ein Mahlwerk unter ohrenbetäubendem Lärm daraus Pulver macht, um dann exakt soviel davon zu dosieren, wie es der Wassermenge entspricht, die man vorher woanders eingefüllt hat. Falls der moderne Apparat nicht selbst an der Wasserleitung hängt, natürlich.
Die zweite Variante bedeutet, irgendwelche Pads zu kaufen. Die sind mit einem gewissen Anteil an gefriergetrocknetem Kaffee gefüllt. Und die Maschine preßt anschließend unter Hochdruck ein paar Tropfen Wasser hindurch, um dann etwas zu erzeugen, das ein bißchen – aber nicht ganz – anders als Kaffee schmeckt.
Und für all das muß man nur noch auf einen Knopf drücken.
Wir ersetzen einfache Dinge durch komplexes Zeug, das sich aber mit nur einem Knopfdruck bedienen läßt.
Ich habe mir vor Jahren eine Kaffeemühle zugelegt. So ein Ding aus Holz mit einer Kurbel oben drauf. Meine Oma hatte so was. Da gibt man Kaffebohnen rein, mahlt sie gründlich durch und dann gibt man die Menge an Pulver, die man selber für richtig hält, in einen Filter. Da schütte ich heißes Wasser drüber, das aus einem Topf auf dem Herd stammt. Selbst das würde ohne Strom funktionieren, wenn ich ein Feuerchen machen würde oder einen Kohleofen benutzen wie meine Oma.
Das Ergebnis dieses Prozesses ist eine Flüssigkeit, die man benutzen kann, um Wandfarbe abzubeizen, den eigenen Magen zu gerben, Klingonen zu erschrecken oder die Leiche des Werbefuzzis für Kaffeezubereitungsanlagen aufzulösen, der an der Tür geklingelt hat. All das hängt ganz von der persönlichen Laune bei der Dosierung ab.
Auf jeden Fall hat diese Flüssigkeit verdammt viel mehr mit Kaffee zu tun als dieses komische Zeug, das aus den anderen Maschinendingern fließt.
Die Menschen, die ihr kaffeeähnliches Getränk aus Pads erzeugen, geben im Vorfeld soviel Geld für die Maschine aus, daß ich damit einen Jahresvorrat Kaffee kaufen könnte. Heute wäre es ein 10-Jahres-Vorrat, ich habe früher viel mehr Kaffee getrunken.
Dann kaufen diese Menschen seltsame Filterpads, deren Herstellungsprozeß ebenfalls nicht unkompliziert ist und in denen so wenig Kaffee enthalten ist, daß das Kilo umgerechnet etwa 85 Euro kosten würde.
Am Ende entsteht weder besserer noch billigerer Kaffee als zu Zeiten meiner Oma, eher im Gegenteil.
Beim Fertigkauf ist es dasselbe. Bis andere Leute bei Starbucks viel zu viel Geld ausgegeben haben, indem sie so etwas wie „Latte Macchiato, decaff, mit Vanille, Schokostreuseln, medium Schaum” bestellt haben, bin ich mit dem Ruderboot nach Afrika gereist, zurückgeschwommen, habe mir meinen persönlichen Kaffeestrauch auf den Balkon gesetzt und die erste Ernte geröstet. Starbucks verkauft allen Ernstes „flavoured coffee”.
Hier sei ein Hinweis an alle Konsumenten gestattet: Kaffee hat bereits ein Aroma. Sogar hunderte davon. Sie schmecken alle nach Kaffee.
Nein, was heutzutage als Fortschritt angepriesen wird, macht Dinge offensichtlich nicht automatisch besser. Oder billiger. Oder auch nur einfacher.
Die schlechtere Rasur. Der unglaublich teure Kaffee. Tintenstrahldrucker, deren Tinte teurer ist als Gold.
Also starte ich noch einen Versuch: Heutzutage ist alles per definitionem Fortschritt, was es irgendwelchen Firmen mittels ausgeklügelter Kundenverarschung gestattet, noch mehr Profit aus einem möglichst lausigem Produkt rauszuholen.
Fortschritt bestimmt sich heute nach seiner Fähigkeit, die Bilanzsumme eines Unternehmens zu erhöhen. Es geht nicht länger darum, ob etwas für die Gesamtgesellschaft nützlich ist – so wie die Entwicklung des elektrischen Stroms.
Es geht nicht länger darum, ob etwas tatsächlich enorme Verbesserungen mit sich bringt – wie die „Erfindung” der modernen Medizin mit ihrer Erkenntnis, daß Händewaschen gelegentlich mal keine schlechte Idee wäre.
Fortschritt bemißt sich heute einzig und allein darin, daß er möglichst viel Profit generiert. Das kann natürlich auch schnellerer Profit sein, was sich in anderen Aspekten moderner Produkte niederschlägt. Mein Superrasierer ist nicht nur teurer pro Rasur, die Klingen werden auch recht schnell stumpf. Dann werfe ich das Ding weg und setze einen neuen Satz Klingen auf. Ein altes Rasiermesser könnte ich problemlos schärfen.
Ich denke, ich werde demnächst mal nach einem alten Rasiermesser Ausschau halten.