Letzte Reise

Mein Gott hat im Gegensatz zu dem, an den so viele andere glauben, keine Anbetung nötig. Mein Gott ist keiner des Rituals oder der Sünden.

Er ist der Gott der Thermodynamik, der Planck-Länge und der Lichtgeschwindigkeit.
Er ist der Gott, der die Ästhetik des Flusses, an dem ich gerade entlangfahre, in ein chaotisches Muster aus Strömungsdynamik verwandelt.

Im Gegensatz zu dem anderen Gott hat meiner allerdings einen Nachteil: er kennt keinen Trost. Kein höheres Ziel. Keine Vergebung. Es gibt bei ihm keine Gnade, keine Erlösung.
Nur die Unerbittlichkeit eines entropischen Universums, in dem selbst Sterne nicht ewig leuchten.

Es klart auf. Das Graublau über den Hügeln und Hängen am Rhein deutet auf einen schönen Herbsttag hin. Das Weinlaub verfärbt sich. Es könnte so eine schöne Reise sein, wäre da nicht das Ziel.
Ich bin auf dem Weg, ein Versprechen einzulösen. Einen Schwur. Auf dem Weg zu der Frau, die mir mehr bedeutet als jede andere.

Das Einzige, was uns als Menschen bleibt, vielleicht das Einzige, was uns menschlich macht, ist die Reise. Und ihre Reise war gut.

Mein Bruder schickt mir eine Nachricht. Sie lautet: »Wir holen dich ab.«

Nicht er alleine. Auch der Mann, der tapfer und treu 32 Jahre an Mutters Seite gestanden hat. Er braucht unsere Hilfe. Wir brauchen jede Hilfe, die wir einander geben können.

Der nächste Zug. Umsteigen. Er ist pünktlich auf die Minute, als wüßte er um die Dringlichkeit. Ich sitze zuerst gegen die Fahrtrichtung. Üblicherweise ist mir das egal. Heute muß ich sehen, wohin ich fahre. Denn hinter mir ist alles dunkel.

Mein altes Leben bleibt hinter mir zurück.
Wenn ich von dieser Reise zurückkehre, diesem Trip in die größte Angst meines Lebens. wird die Welt so sein wie immer. Es wird dann nur nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Die Sonne steigt höher. Wellenmuster, Strömungen und die Verwirbelungen glitzern auf dem Wasser. Fast möchte ich mich freuen beim Gedanken daran, wie Mutter oben auf ihrer Treppe stehen wird und lächeln, wenn ich ankomme.

Aber das wird sie nicht tun. Nicht mehr. Nie wieder. Diese leere Treppe vor einer offenen Haustür wird ab jetzt immer in meinem Kopf sein.

Mein Gott ist ein Gott ohne Hoffnung und ohne Trost.

Aber heute, an diesem Tag flehe ich inständig zu diesem anderen: Laß sie noch leben, wenn ich ankomme. Bitte. Wie ich es versprochen hatte und mir immer geschworen.
Damit ich Abschied nehmen und sie begleiten kann auf ihrer letzten Reise.


Titelbild © by https://www.christianhopkinsphotography.com/


Update 20221105
Kurze Erläuterung zum besseren Verständnis: der Text ist von mir vor fünf Wochen geschrieben worden. Oder besser, von meinem Hirn. Ich war es nicht. Auf dem Weg nach Hause im Zug. Mutter ist tot.

12 Comments

    1. Ich drücke die Daumen und wünsche viel Kraft. Ich kam leider 2x zu spät. Und schämte mich, weil ich nicht genau sagen konnte, ob es gut oder schlecht war zu spät gekommen zu sein

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      1. Das ist sehr lieb und Danke.

        Und schämte mich, weil ich nicht genau sagen konnte, ob es gut oder schlecht war zu spät gekommen zu sein

        Das ist eine extrem persönliche Sache und kein Grund, sich zu schämen. Mein Bruder war – in dem letzten Moment – nicht dabei. Er hat klar gesagt, er kann das nicht.
        Ich hätte mir das nie verziehen, wäre ich nicht da gewesen.

        Ich denke, beide Haltungen sind nachvollziehbar und berechtigt. Ein schönens Wochenende wünsche ich.

  1. Kassandra, von Herzen viel Kraft und Zuversicht.

    > Diese leere Treppe vor einer offenen Haustür wird ab jetzt immer in meinem Kopf sein.

    Das ist eine Entscheidung.

    Liebe Menschen zu verlieren ist immer sehr schmerzhaft. Nach meiner Erfahrung ist dabei der Fokus häufig stark auf die letzten Momente gerichtet. Doch die sind nur ein kleiner Teil der gemeinsamen Reise. Meist gibt es eine wahre Fülle von guten, wertvollen Augenblicken, für die man dankbar sein kann.

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  2. Tut mir leid zu lesen. Da Kraft bereits gesendet wurde, wollte ich “Zeit und Raum” wünschen…deinem Update entnehme ich aber, dass du dir beides nehmen kannst. So bleiben nur die Worte “Möge bei all dem Schwierigen auch etwas Friedvolles durchschimmern”.

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  3. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Ich habe die drei wichtigsten Menschen – Mutter, Vater und ein Cousin, der mein bester Freund war – 2018 verloren.
    Auch mein Gott heißt Natur, ich sehe in ihr aber auch eine Unendlichkeit und Ewigkeit im Großen wie im Kleinen, Schönheit, Ausgleich, Liebe und Wärme. Es gibt nicht nur Entropie sondern auch Negentropie. Wachstum und Zerfall. Das eine kann nicht ohne dem anderen. Bipolarität, die das Leben strukturiert, ihm “Grenzen” schenkt und es periodisch ruhen und wieder aktiv werden lässt. Es gibt kein Nichts, keinen absoluten Anfang und kein absolutes Ende, kein Ziel (Gott sei Dank!), nur Leben, in Perioden, Abschnitte und vergängliche Körper unterteilt. Alles, was wir von Natur aus machen müssen, ist orgastisch, sogar das Trauern.
    All das tröstet mich und gibt mir Kraft. Ich kann mittlerweile in der Natur keine Unerbittlichkeit mehr erkennen.

    Verlust ist irgendwann wieder Gewinn und umgekehrt.

    https://youtu.be/PciJq0qYJj8

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    1. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Ich habe die drei wichtigsten Menschen – Mutter, Vater und ein Cousin, der mein bester Freund war – 2018 verloren.

      Heilige…
      Mein nachträgliches Beileid. Was für ein Schlag.

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      1. Ein bisschen gezerrt am Nervengerüst hat’s schon, aber nun ja – Vater 90, Mutter 83 und sie hatten ein relativ angenehmes Leben.
        Man muss halt immer Mal die Arschbacken zusammenkneifen, aber wenn man erst Mal drüber weg ist…🙂 That’s life!

  4. Hey Kassandra21, habe es jetzt erst gelesen. Und auch wenn es schon einpaar Wochen her ist… Es gibt Momente und Zeiten im Leben in denen wir ganz deutlich, wie relativ Zeit ist.
    Ich wünsche Dir und deiner Familie ganz viel Kraft.
    Und auch wenn wir beide nicht an Götter glauben, kein Paradies oder ähnlichen Verrücktheiten…. So kann aber vielleicht der Trost bleiben, dass, selbst wissenschaftlich betrachtet, NICHTS wirklich verloren geht. Alles und jedes verändert “NUR” seine daseins Form, seinen “Aggregatzustand” und alle Energie fließt weiter.
    Und so, glaube ich, dass wir in diesem Energiefluß für alle Zeit(en) mit einerander im Fluß sind, in Verbindung.
    Deine Mutter hat Dir vieles gegeben, sie hat Dich vieles gelehrt und all das ist mit Dir und bei Dir und das ist die, das ist Deine Verbindung.

    Mein herzlichstes Beileid

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