Komplexifizierung

„Einfachheit ist der höchste Grad der Vollkommenheit.”
Leonardo da Vinci

Es ist nicht nur diese Sache mit dem Rasiermesser, die ich da neulich erwähnt hatte. Das Problem dahinter ist tiefliegender. Eventuell ist das Problem darunter auch fundamentaler, aber das wird jetzt zu metaphysisch.

Wir zoomen kurz 11.000 Jahre zurück, plusminus ein paar Monate.
Irgendwer hatte entdeckt, daß Pflanzen, die man essen kann, oder solche, die man in was Eßbares verwandeln kann, sich auch gezielt züchten lassen.
Von da ab ging alles den Bach runter, könnte man sagen, aber das wäre zu kurz gefaßt.

Die Erfindung der Landwirtschaft bedingte die Entwicklung der Stadt, denn ab diesem Zeitpunkt mußte ja jemand auf die neuen Felder aufpassen. Es war nicht mehr möglich, Jahr für Jahr durch die Gegend zu ziehen und als Jäger und Sammler oder nomadische Hirten zu leben. Und damit man sich nicht im Winter den Arsch abfriert oder im Frühjahr ständig im Regen hockt, braucht man eine Hütte. Aus Holz, Lehmziegeln, den Knochen erschlagener Feinde – was immer sich so findet oder in der jeweiligen Kultur gerade so aktuell angesagt sein mag.
Die Erfindung der Stadt wiederum bedingte auch die Entwicklung von Domestizierung.
Irgendwann kam jemand auf die naheliegende Idee, daß man ja um die paar Viecher, die man so da hatte, auch einfach einen Zaun bauen könnte. Dieser kluge Kniff erspart es einem nämlich, jeden Morgen zu gucken, ob noch alle Schäfchen da sind. Oder Ziegen. Und…nun ja…Tiere vermehren sich, da ist es irgendwie naheliegend, sich darum zu kümmern, daß man den geilsten Bock zum schönsten Schaf…und so entstand dann wohl die Tierzucht.
Natürlich muß man die Tiere dann gezielt weiter vermehren und auch mit Futter versorgen, was wiederum mehr Felder bedeutet haben dürfte.
Es dürfte ebenfalls nicht besonders lange gedauert haben, bis jemand bemerkt hat, daß man Vorräte anlegen sollte, um die Menschen sicher durch den Winter zu bringen. Spätestens nach dem ersten Hungerwinter wird jemand diese kluge Erweiterung des Wissens vollzogen haben, nehme ich an.
Dazu mußte man wissen, wieviel Getreide man eigentlich so geerntet hatte. Wer erntete wieviel auf welchen Feldern? Wieviel brauchten die Menschen? Wieviel die Tiere? Wieviel benötigte man zur Aussaat im nächsten Jahr?

Die Entwicklung der Stadt, der Wechsel von nomadischen zu seßhaften Leben, führte somit mehr oder weniger zwangsläufig zur Entwicklung von Verwaltung und der Entstehung von Schrift.
Irgendwie mußte man ja das ganze Zeug zählen. Es kann sein, daß die Geschichte der Mathematik mit hingekrakelten Linien auf einer Tontafel begonnen hat und die Geschichte der Schrift mit etwas, das aussah wie ein Sack Getreide. Oder ein Krug Getreide. Und da irgendwer ja auf den Feldern arbeitete, mußte wiederum wer anders diese bewachen und noch jemand anders mußte sich um das Zählen kümmern. Die Entstehung der Stadt bedingt in meinen Augen zwingend logisch die Entstehung von Arbeitsteilung in großer Vielfalt, oder, modern ausgedrückt, die Entwicklung von Spezialisierung.

Das Wort „Zivilisation”, daß wir heute noch immer benutzen, ist ein Abkömmling des lateinischen Ausdrucks „civis”. Was nichts anderes bedeutet als „Stadtbewohner”. Das Zusammenleben in einer von Verwaltungsregeln gegliederten Gemeinschaft bildet die Grundlage, oder besser, die generelle Kulisse der menschlichen Entwicklung seit gut 10 Jahrtausenden.
Aber auch hier ist der allgemeine Kontext umfassender: Seit Anbeginn aller Zeit – dieser Ausdruck bedeutet heute so viel wie „seitdem wir Stadtbewohner geworden sind” – wird die menschliche Gesellschaft komplexer.
Aus einem Haufen Jäger und Sammler wird relativ zügig ein Haufen Jäger, die in der näheren und weiteren Umgebung weiter für Nahrungszufluß sorgen. Die immer noch vorhandenen Sammler sammeln ebenfalls weiter, denn zu Beginn dürfte das mit der Landwirtschaft eine recht unsichere Sache gewesen sein.

Die Geburtsstunde der Stadt ist die Geburt der menschlichen Gesellschaft bis heute.

Dazu kommen die Feldhüter, die Bauern, die Schreiber und natürlich muß irgendwer ja der Chef sein. Aus irgendwelchen Häuptlingen, die sich nach der Qualifikation bemessen haben mögen, eben die fähigsten Jäger zu sein, entwickeln sich sehr rasch Könige, die sich danach bemessen, eben die besten Verwalter zu sein. Oder auch die besten darin, jedem die Rübe von den Schultern zu schlagen, der ihnen zu widersprechen wagt. Das hängt wieder von den Vorlieben und Ausprägungen der jeweiligen Kultur ab. Heute ist das ein bißchen subtiler in der Politik, wenn auch nicht wirklich viel subtiler. Ein gewisses Maß an Komplexitätszunahme läßt sich aber auch hier nicht verleugnen.

Heute, in einem Jahr, das wir nach einem völlig willkürlichen Kalender 2015 ndZ nennen, ist die menschliche Gesellschaft ein nahezu unglaubliches Geflecht aus komplexem Wahnsinn.
Kaum ein Punkt der Erdoberfläche, den wir nicht besiedelt hätten. Ob das in den feuchtesten Tropen oder der trockensten Kältesteppe ist, man trifft eigentlich überall Exemplare unserer Spezies auf diesem Planeten.
Gigantische Straßensysteme durchziehen ganze Kontinente, eine nahezu unglaubliche Menge an verdammt riesigen Schiffen durchkreuzt die Ozeane der Erde, um Güter jeglicher Art von A nach B zu bringen. Wobei A meistens eine Nation ist, die wirtschaftlich weniger stark ist und B eine Nation, die es sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht erlauben kann, auf ihre Arbeiter massiven Druck auszuüben, die nicht einmal im selben Land leben. Wir nennen das Globalisierung.
Natürlich hat Nation B aller Wahrscheinlichkeit auch wesentlich mehr militärische Macht als Nation A, denn Wirtschaftskraft fließt sehr oft in ein möglichst großes und schlagkräftiges Heer.
Schließlich möchte man ja für Rohstoffe, die man anderswo herbekommt, nicht zu viel bezahlen. Das ist ein Punkt, der sich seit der Gründung der ersten Städte nicht wesentlich geändert hat, zumindest bin ich mir da sehr sicher.

Mit der Zivilisation untrennbar verbunden ist der technologische Fortschritt. Wo es früher Bogenschützen gab, kam irgendwann Infanterie mit Pulverwaffen auf. Wobei keine Sau unter den Historikern zu wissen scheint, wer eigentlich wann und wo das Bogenschießen erfunden hat. Wir wissen lediglich, daß diese Erfindung wesentlich älter ist als die der Stadt, nämlich so etwa 30.000 Jahre.
Wo früher Katapulte aus Holz Steine schleuderten, schleuderten später Geschütze aus Stahl Artilleriegeschosse auf den Gegner.
Wo man früher laufen mußte, mit dem Kahn über den Fluß setzen oder mit dem Ochsenkarren in den Nachbarort gondeln, der 50 km entfernt lag, benutzt man heute ein Auto auf einer asphaltierten Straße und fährt auf einer Spannbetonbrücke über den Fluß.
Oder man nimmt den nächsten Zug, der einen auf ausgebauten Schienenwegen recht zuverlässig auch an weiter entfernte Ziele bringt. Selbst morgens auf einem Kontinent aufzustehen und am Abend auf einem völlig anderen Kontinent zu Bett zu gehen ist nichts, worüber man sich heute groß wundern würde.
Wir können unsere Häuser beheizen und haben nach Sonnenuntergang eine beliebige Menge an Licht zur Verfügung, wir können an einem Ort, der meistens nicht weiter als drei Kilometer von uns entfernt ist, Nahrungsmittel aus Gegenden kaufen, die von uns mehrere tausend Kilometer entfernt liegen. Und wir sind auch noch erstaunt darüber, wenn das Licht mal nicht funktioniert oder es im Januar keine Erdbeeren geben sollte, anstatt darüber erstaunt zu sein, daß all diese Dinge vorhanden sind.

Noch vor 200 Jahren hätten unsere Vorfahren derartig unglaubliche Macht in den Bereich der Legenden verwiesen und nochmal 500 Jahre vorher hätte man solche Dinge für Zauberei gehalten. Für einen Menschen des Jahres 1015 ndZ wären wir alle entweder Götter oder Dämonen.

Wie paßt all das zu dem, was ich vorher schon beschrieben habe?
Wie kann es ein Problem mit dem Fortschritt geben oder mit der Innovation oder sogar eines, das noch tiefer geht, wenn doch offensichtlich alles so wunderbar funktioniert?
Die entscheidende Frage an dieser Stelle ergibt sich wieder einmal nur, wenn man genauer hinsehen möchte und sich von der vordergründigen Fassade nicht zu weit ablenken läßt. Die Frage lautet: „Funktioniert wirklich alles so wunderbar?”

Die Antwort darauf ist beinahe ebenso komplex wie die menschliche Gesellschaft. Beginnen wir also mit einfachen Dingen.
Ich bin, wie bereits erwähnt, für die Möglichkeit relativ schmerzloser Zahnbehandlungen im 21. Jahrhundert durchaus recht dankbar.
Allerdings braucht man dazu heute auch einen Termin. Den muß dann jemand in einem Computersystem buchen. Dazu wird dann meine Kassenkarte eingelesen. Ergibt sich was Komplizierteres, muß ein sogenannter Heil- und Kostenplan aufgestellt werden, mit dem der behandelnde Arzt erläutert, wofür er der Kasse jetzt schon wieder Geld aus dem Kreuz leiern möchte. Mit diesem Plan beschäftigt sich dann wiederum jemand anders an einem Computersystem, das in den Büros der jeweiligen Krankenkasse steht.

Dann schreibt die Kasse dem Zahnarzt, wie er mir als Patienten möglichst schonend beibringen kann, daß die Kasse die Kosten der Behandlung bedauerlicherweise nicht tragen kann – weil die Mondphasen nicht stimmen oder der Zworp nicht gebronzelt hat, irgendwas findet sich da schon. Ich persönlich neige zu der Annahme, daß alle heutigen Sachbearbeiter bei Krankenkassen Nachkommen persischer Astrologen sein müssen.

Meistens stehen exakt die kleineren Dinge nicht im Behandlungskatalog, bei denen sich möglichst viele Mediziner einig sind, daß sie sehr wohl hilfreich wären und auch nicht akut teuer. Hat man was Interessantes, an dem die Mediziner womöglich noch rumforschen, bezahlt die Kasse alles, und wenn man dafür zum CERN fahren muß, um sich mit Gravitonen beschießen zu lassen. Hat man so was Langweiliges wie aggressive Paradontitis, muß man einen Teil der Kosten selbst tragen. Dabei kommen hier nicht mal Gravitonen zum Einsatz in der Behandlung. Das moderne Gesundheitswesen ist nicht immer fair.
Hinzu kommen noch Zahnarzthelferinnen, der Doktor selbst, Röntgengeräte, Vermessungen des Kieferknochens…und alles muß natürlich genau dokumentiert werden, wofür durchschnittlich pro Patient nach meiner Schätzung 1,94 Bäume irgendwo ihr Leben lassen müssen.
Natürlich muß noch irgend jemand den Strom liefern und die ganzen ausgeklügelten kleinen Foltergeräte eines Zahnarztes herstellen, die für solche Fälle immer auf einem Tablett im Behandlungszimmer bereitliegen, um dem Patienten Angst einzujagen. Inquisitoren kennen diese Vorgehensweise.

Die Flasche Whisky zur Betäubung und die Zange zum Ziehen des Zahns, die einen etwa um 1820 noch beim örtlichen Schmied oder Friseur erwartet hätten, waren viel unangenehmer als heutige Zahnarztsitzungen. Aber sie waren auch erheblich unkomplizierter und erforderten die Arbeit von viel weniger Menschen. Auch kostenmäßig waren derartige Vorgehensweisen wesentlich überschaubarer als heute.
Exakt das ist das Problem, mit dem die Menschheit konfrontiert ist: Eine zunehmende Komplexität aller Dinge, die einen umgeben und die das ermöglichen, was man allgemein als „Alltag” bezeichnet.

In der modernen Gesellschaft werden Problemlösungen zunehmend komplex. Was Probleme mit sich bringt.

Statt ein Pferd einzuspannen, benutzen wir heute Pferdestärken. Da kann man sich jetzt drüber streiten, aber Autos vermehren sich nicht selbst und sie grasen auch nicht. Stattdessen werden sie in Fabriken gebaut und müssen mit Benzin versorgt werden. Diese Fabriken brauchen Rohmaterial, wie Stahlblech, zum Beispiel.
Das wiederum muß irgendwo hergestellt werden. Dann muß es in der Fabrik ankommen.
Früher – also etwa vor 30 Jahren – hätte es in Wolfsburg, Stuttgart oder Rüsselsheim dazu Lager gegeben, um einen konstanten Materialzufluß zu gewährleisten.
In modernen Zeiten gibt es kein Lager mehr, dieses Wort treibt Controllern Angstschweiß auf die Stirn.
Lieber lassen wir heute sehr viele Lastwagen mit gestreßten und unterbezahlten Fahrern durch die Gegend kutschieren, die dann auf die Minute pünktlich an der jeweiligen Fabrikationsstätte ankommen müssen, damit die Produktion gewährleistet ist. „Just in time” heißt dieses längst etablierte Konzept. Für den Autobauer hat es den Vorteil, daß er sich nicht um Lagerhaltung kümmern muß. Weniger Personal, weniger Kosten.
Den LKW-Fahrer zahlt die Spedition, bei der der Kerl angestellt ist. Und das rollende Lager sorgt dafür, daß heute auch auf drei- oder vierspurigen Autobahnen nicht weniger Stau herrscht als vor 40 Jahren auf zweispurigen. Zusätzlich  sind da die Kosten der Straßen selber, die von LKW sehr ordentlich zerstört werden. Aber auch das stört ja den Autobauer nicht, denn er ist ja nicht der Besitzer der Rheinbrücke, er baut Autos.

Also stehen Lastwagen auf der rechten Spur, PKW auf der linken, denn von den vier Spuren sind im Schnitt 1,2 gesperrt wegen Reparaturen. Die Nerven liegen blank, unzählige Stunden Arbeit und Freizeit gehen verloren, der CO2-Ausstoß ist total sinnlos und selbst wenn der Typ am Band dann brauchbar bezahlt wird, erhöht sein Staat die Steuern oder die Kommune irgendwelche Gebühren, um damit die Straßen zu bezahlen, zu reparieren oder auszubauen, damit darauf noch mehr Lastwagen fahren können. Nur die Unternehmensbilanz, die freut sich. Außerdem Aktionäre und Firmenvorstände, die sich von ihrem Jahresgehalt dann eine eigene Rheinbrücke kaufen können.

Dieses Prinzip der zunehmenden Komplexität hat ein Mann namens Joseph Tainter bereits 1990 beschrieben . Das Werk ,,The Collapse of complex societies” beschäftigt sich genau mit dem, was der Titel besagt. Warum werden Gesellschaften immer komplexer? Und warum gehen sie dann unter?

Nun, einer der Gründe ist das Gesetz des Abnehmenden Ertrages, und dessen Auswirkungen habe ich soeben beschrieben.
„Fortschritt” im aktuellen Sinne ist per definitionem nichts anderes als eine Methode, Dinge als besonders neu und innovativ zu verkaufen, die es einem Konzern in irgendeiner Form ermöglichen, seine Bilanz schöner aussehen zu lassen. Das geschieht durch Erhöhung von Gewinnen und die werden erhöht, indem man der Gesellschaft die Kosten für etwas aufdrückt, was man sonst selber bezahlen müßte. Wie zum Beispiel für eine Lagerhaltung. Der Fachausdruck hierfür ist Externalisierung. Je mehr man externalisieren kann, desto höher der Profit.

Beide Prinzipien – die steigende Komplexität und der abnehmende Ertrag – erreichen irgendwann an einen Punkt, an dem eine Gesellschaft keinen Nutzen aus weiteren „Neuerungen” zieht, sondern schlicht und einfach draufzahlt.

Jetzt sollte man annehmen, daß eine Gesellschaft aus Lebewesen, die sich selber als „vernunftbegabter Mensch” bezeichnen, dieses Problem erkennen sollte.
Das ist auch durchaus der Fall, das Buch von Mr Tainter beweist das.
Allerdings sollte man auch erwarten, daß sich die Gesellschaft dann an einen Tisch setzt, das Problem gründlich analysiert und dann eine Lösung präsentiert, die vom soziologischen Standpunkt aus den Grad der Komplexität senkt, um so wieder in den Bereich der „schwarzen Zahlen” zu kommen.
Exakt das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Tainter weist in seinem Werk nach, daß Gesellschaften aller Art auf das Problem des abnehmenden Ertrags mit zunehmender Komplexität reagieren.
Statt zum Rasiermesser zurückzukehren, entwickelt man „besseren” Rasierschaum in Dosen, um die jetzt fünf statt drei Klingen besser über das männlich-markante Kinn im Werbespot gleiten zu lassen. In Zeitlupe, versteht sich.

Statt das Gesundheitswesen zu verstaatlichen und aus 350 privatwirtschaftlichen Kassen mit Hunderten von Filialen eine Kasse zu machen, die eine vernünftige Grundversorgung für alle Bürger garantiert, tauchen politische Parteien auf, die das für planwirtschaftliche Zwangsmaßnahmen halten und private Krankenversicherungen bevorzugen. Zum Ausgleich für deren höhere Kosten sollen dann die gesetzlichen Kassen abgeschafft werden. Jeder sollte selbst entscheiden können, was er sich nicht leisten kann. Das ist marktwirtschaftliche Freiheit.
Die höheren Kosten sind natürlich auch gerechtfertigt, warum sollte eine privat versicherte Otitis media nicht auch fünfmal so teuer sein wie meine gesetzlich versicherte Mittelohrentzündung?
Immerhin guckt derselbe Doktor mit denselben Instrumenten in beide Ohren und drückt dem Patienten den gleichen Salbenstreifen ins Ohr, um die Entzündung zu bekämpfen. Da kann man doch ruhig verschiedene Preise berechnen. Was sollte daran nicht logisch sein?
Der Privatpatient braucht auch einen Termin, produziert also denselben Aufwand. Er kommt dann nur schneller dran, also pünktlich. Um das Ganze gerecht zu gestalten, werden private Krankenversicherungen exakt dann besonders teuer, wenn der Versicherte statistisch gesehen öfter ärztlichen Beistand benötigt, also jenseits der 55. Ist halt doof, wenn man dann ein recht gesunder 55jähriger ist. Zahlen muß man trotzdem, denn so einfach läßt eine Privatkasse ein Opf…einen Patienten nicht mehr gehen.

Um dieses Durcheinander zu regulieren, werden Kommissionen eingesetzt, die dann festlegen, welche Behandlungen eine Kasse denn überhaupt bezahlt. Das gilt natürlich nur für die gesetzlichen Kassen. Die privaten versichern alles, solange der Patient bezahlt.
Was manchmal dazu führt, daß schamanisches Besingen per Bach-Blütentherapie bezahlt wird, aber sowas wie Akupunktur, die ihre Nützlichkeit seit einigen Jahrtausenden bewiesen hat, möglicherweise nicht.
Um die Kosten für die komplexe Verwaltung zu begrenzen, reagiert die Gesellschaft mit besserer Planung der Behandlung. Alles muß plötzlich kosteneffektiv sein. Was uns wieder zum Heil- und Kostenplan bringt, der wiederum jede Menge Verwaltungsaufwand mit sich bringt, also die Komplexität nicht zwingend senkt. Aber das zahlt ja der Arzt in der Praxis. Oder ich als Patient, zumindest teilweise. Manchmal erscheint einem die Flasche Whisky und die Behandlung durch den Dorfschmied doch verlockender.

Aber das Prinzip der steigenden Komplexität ist in der Entwicklung einer Gesellschaft einfach fest verankert, so scheint es. Zumindest ist jede Gesellschaft, die Tainter in seinem Buch untersucht, bisher diesem Pfad gefolgt. Und wenn man sich damit beschäftigt, stellt man fest, daß auch jede Gesellschaft diesem Weg gefolgt ist, mit der sich Mr Tainter nicht beschäftigt hat.
Letztlich wird unweigerlich der Punkt erreicht, an dem sich die beiden Kurven schneiden. Der Ertrag nimmt weiter ab, die Kosten steigen weiter an, irgendwann landet die ganze Angelegenheit in den Miesen.

In Deutschland könnten wir noch mehr Straßen bauen, um noch mehr Lastwagen fahren zu lassen. Aber wer bezahlt das?
Nun, normalerweise ist so etwas Sache des Staates, aber ich verrate jetzt mal ein Geheimnis: Der Staat hat gar kein eigenes Geld. Hatten Staaten noch niemals. Vielen Menschen scheint dieses nicht unwichtige Detail zu entgehen, ganz besonders deutschen Autofahrern. Wer also vehement wettert, der Staat möge doch endlich mehr Straßen bauen gegen die ganzen Staus, sagt eigentlich, er möchte gerne seine Steuern erhöht haben.

Steigende Komplexität ist immer mit einer Erhöhung von Kosten verbunden.

Denn auch das ist ein Problem immer komplexerer Strukturen: Sie werden nicht linear teurer. Je nachdem, um welches Gebiet es sich genau handelt, können die Kosten auch exponentiell steigen.
In einem Biolabor, in dem heimtückische Erreger aus fernen Ländern untersucht werden, wird beispielsweise in einer Klimaanlage natürlich die Abluft gefiltert. Jetzt gibt es Filter, die können etwa 90 Prozent aller Sporen, Viren und Bakterien aus der Luft herausholen. Warum nicht 99,9 Prozent?
Einfach deswegen, weil eine derartige Maßnahme unbezahlbar wäre. Ein 95%-Filter würde etwa bereits 15mal soviel kosten wie das 90%-Modell. Ein 99,9%-Filter wäre so teuer wie die ganze restliche Einrichtung des Labors.
Man löst dieses Problem dadurch, daß man in derartigen Hochsicherheitslabors eben nicht einen, sondern drei oder vier der 90%-Filter hintereinander schaltet. Man stößt also an eine absolute Kostengrenze, die als Lösung die Komplexität des Systems weiter erhöht.

Beim Straßenbau ist das nicht ganz so extrem, aber mehr Straßen bedeuten auch mehr Wartung. Moderne Infrastruktur muß gewartet werden.
Das wiederum bedeutet aber, man müßte viel mehr Menschen einstellen, die eben das tun. Diese Menschen müssen bezahlt werden, was sich zu den Kosten neuer Straßen addiert. Ganz abgesehen davon, daß man natürlich auch Platz in der Landschaft braucht, um mal eben noch 4 Spuren an eine Autobahn dranzunageln.

Es kann auch sein, daß der fleißige Autofahrer mit seiner Forderung nach „Mehr Straßen, sonst wähl’ ich die CDU nicht mehr!” nicht unbedingt neue Steuern auslöst, denn Politiker haben erkannt: Steuern sind unbeliebt beim Volk.
Das muß so etwa um 5000 vdZ gewesen sein, als diese Erkenntnis den Herrschern erstmals gekommen ist. Ich persönlich schätze mal, das Steuern unbeliebt sind seit dem Moment, in dem erstmalig welche erhoben wurden. Das war vermutlich vor Erfindung der Schrift.

Dafür hat man in der Politik eine geniale Lösung gefunden, die sich im Deutschen ÖPP nennt, das steht für Öffentlich-Private-Partnerschaft, im Englischen PPP.
Was klingt wie die Abkürzung für die neueste Geschlechtskrankheit, ist ein Prinzip, das von cleveren Firmen erfunden wurde.
Die Überlegung basiert auf folgenden Fakten: Steuern sind bei Bürgern unbeliebt, steigende Steuern noch viel mehr. Schulden sind aber auch unbeliebt, besonders bei Politikern, die haben es immer sehr mit dem Staatsetat, gerade seit dem Ausbruch der aktuellen Krise der Globalisierung.
Also bietet man Politikern einfach an, die Kosten für ein eigentlich staatliches Projekt zu übernehmen, es also privatwirtschaftlich zu errichten. Davon sind Politiker ganz begeistert, denn jetzt müssen sie die Rechnung nicht direkt in ihren Haushaltsplänen einpreisen.

Stattdessen baut Firma X die neue Brücke über den Rhein – die andere ist kaputt, wegen der vielen Laster, sie erinnern sich – und der Stadtkämmerer freut sich und der Autofahrer auch. Allerdings nicht lang, denn plötzlich muß man auf der Brücke Mautgebühren bezahlen. Die kriegt natürlich nicht die Stadt, sondern die Firma X. Die Stadt zahlt hingegen die Rechnungen, zum Beispiel die für die Instandhaltung des neuen Bauwerks.
Es kann auch sein, daß Firma X sich darum kümmert. Sie gibt diesen Teil der Arbeit an Firma Y weiter, die möglichst günstige Arbeitkräfte einstellt, zur Gewinnmaximierung. Trotzdem schreibt Firma X dann für diesen Aufwand eine Rechnung an den Stadtkämmerer, der wieder graue Haare bekommt und erstmal die Mautgebühren erhöht.
Was er aber gar nicht kann, denn diese Gebühren unterliegen Firma X und nicht ihm. Und natürlich hat die Firma auf maximalen Profit für die Firma kalkuliert, nicht für den Stadtkämmerer, weshalb die Gebühren nicht zu hoch sein dürfen.

Abgesehen von diesen Ärgernissen muß natürlich auch der Bau der Brücke bezahlt werden. „Moment!”, möchte man hier rufen, waren dazu nicht die Mautgebühren da? Aber nicht doch, wie kann man so naiv sein?

Die Mautgebühren sind für die Verwaltungskosten der Firma X, zumindest zu einem guten Teil. Nur ein deutlich geringerer Teil wird für die Baukosten eingesetzt und auf die muß der Stadtkämmerer – oh Wunder – selbstverständlich Zinsen und Tilgung bezahlen. „Aber hat nicht die Firma X die Brücke gebaut und die Kosten übernommen?”
Natürlich nicht, jetzt seien Sie nicht so naiv. Die Firma X hat sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, dem klammen Stadtkämmerer das Geld für seine Brücke vorzustrecken. Sonst nichts.
Den dazu nötigen Kredit hat sich Firma X günstig bei einer Bank besorgt, aber die Stadt zahlt laut Vertrag einen höheren Zinssatz an Firma X als diese an die Bank. Die Differenz ist zusätzlicher Profit. Ist ja auch gerechtfertigt, immerhin hat Firma X in mühseligen Verhandlungen mit den Finanzierern das Geld besorgt, diese krasse Eigenleistung muß honoriert werden.
Natürlich wird so ein ÖPP-Projekt in der Öffentlichkeit immer über den grünen Klee gelobt. Welcher Politiker hätte schon jemals zugegeben, daß er so richtig ins Klo gegriffen hat mit einer Entscheidung?
Außerdem führt das Lob zu weiteren Projekten dieser Art, was mehr Profit für Firma X und Y bedeutet. Das wiederum ist gut fürs Wirtschaftswachstum. Zu diesem Begriff werde ich auch noch etwas sagen, an anderer Stelle.

Falls Sie also Autofahrer sein sollten und öfter im Stau stehen, sollten Sie vielleicht beim nächsten Mal nicht laut fluchen, hupen und lauthals in der Gemeinderatssitzung den Bau neuer Straßen fordern. Die Angelegenheit ist womöglich wesentlich komplexer, als Sie gedacht hätten.

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