Ein Wechsel der Perspektive

„Eine Idee, die nicht gefährlich ist, ist es nicht wert, überhaupt eine Idee genannt zu werden.”
Oscar Wilde

Im 3. Jahrhundert vdZ wurde der bereits einmal erwähnte Grieche Archimedes von König Hieron II. an seinen Hof gerufen, weil der König eine Aufgabe für den als durchaus innovativ bekannten Mann hatte.
Der König hatte sich nämlich eine neue Krone bestellt, wie Herrscher das wohl gelegentlich tun. Dieses aus Gold bestehende Modell war natürlich recht wertvoll und so kam wohl im König der Verdacht auf, daß der beauftragte Schmied eventuell einen Teil des Goldes durch anderes Metall ersetzt hatte. Offensichtlich neigten Menschen in Herrscherpositionen bereits in der Antike zu einem gewissen Mißtrauen. Archimedes erhielt nun die Aufgabe, genau das zu überprüfen.
Was Archimedes wiederum vor ein Problem stellte.
Eine Kugel, ein Quader, ein Kubus – alle diese Dinge wären mit der damaligen Mathematik zu bearbeiten gewesen. Aber die Krone mit ihrer unregelmäßigen Form war in Zahlen nicht zu erfassen, denn die Integralrechnung war noch nicht erfunden. Der Trick war also, das Volumen der Krone zu bestimmen, ohne sie dabei zu zerstören, denn das kam natürlich nicht in Frage.

Nach einer Weile hatte Archimedes vom Grübeln die Nase voll und beschloß, einfach mal einen Tag blau zu machen und ging in die öffentlichen Bäder von Syracus. Die Legende will es, daß sich Archimedes in einer gut gefüllten Wanne genüßlich ausstreckte und dabei ordentlich Wasser über den Rand schwappte. Woraufhin Archimedes „Heureka” ausrief – das ist griechisch für „Ich hab’s gefunden” – und sich im Adamskostüm sprintenderweise durch die Stadt zurück zu seiner Werkstatt begab. Die Erkenntnis, die den alten Griechen in dem Moment ereilt hatte, war die, daß ein Körper im Wasser exakt so viel Flüssigkeit verdrängt, wie er selber an Volumen aufweist.
Prompt tauchte also Archimedes die herrscherliche Krone ins Wasser und dann einen Barren Gold mit dem gleichen Gewicht. Die Krone verdrängte mehr Wasser, hatte also bei gleichem Gewicht mehr Volumen. Ergo mußte sie aus noch etwas anderem bestehen als Gold. Die Legende erzählt uns nicht, was das für Folgen für den Schmied hatte, aber sie dürften nicht zwingend erfreulich gewesen sein.

Archimedes hatte also etwas völlig Neues entdeckt und gedacht, in diesem Falle das nach ihm benannte „Archimedische Prinzip”. Im Allgemeinen ist das auch die geistige Vorstellung von „Innovation”, die wir im Kopf haben, wenn jemand dieses Wort in unserer Hörweite benutzt.
Innovation, also der Erfindungsgeist des Menschen an sich, ist ein untrennbarer Teil vom Rasiermesser des Fortschritts. Und ebenso eine Lüge. Zumindest oft.

Ähnlich wie der Fortschritt ist Innovation in heutigen Zeiten oft lediglich eine Möglichkeit für Firmen, ihre Gewinne zu erhöhen. Bei der Wahrnehmung des abstrakten Dings namens „Fortschritt” spielt auch die Geschwindigkeit eine Rolle, wie ich bereits letzte Woche beiläufig erwähnt habe.
Deshalb muß die Industrie massenhaft Werbung betreiben, um uns zu überzeugen, daß das neue Smartphone irgendwie fortschrittlicher ist als das alte. Obwohl zwischen beiden Modellen gerade mal ein halbes Jahr liegt.
Die Innovation, die uns hier vorgespielt wird, ist nichts weiter als ein abstraktes Bühnenbild, ein Setting. Wir sollen glauben, daß Dinge, die älter sind als ein halbes Jahr – oder sogar ein ganzes Jahr – auf jeden Fall schlechter sein müssen als ihre Vorgänger. Und dank massiver Werbeetats glauben viele Menschen das auch tatsächlich.
Wäre Apple ein Autobauer und das Auto gerade erst erfunden worden, würde es heute schon deswegen viel weniger Autos geben, weil Apple alle anderen Firmen verklagt hätte, die plötzlich begonnen hätten, ebenfalls Fahrzeuge mit runden Rädern und einem internen Verbrennungsmotor herzustellen. Apple hätte einen Herrn Ford in Grund und Boden geklagt wegen der Verletzung irgendwelcher Innovation. Horden von sogenannten Patentanwälten würden über Fords Büro herfallen. In der wirklichen Welt hat Henry Ford das Design des Automobils schlicht übernommen, was hätte er auch sonst machen sollen?

Einwände dieser Art werden in Gesprächen gerne abgebügelt, meistens mit einem Satz wie „Opa erzählt wieder vom Krieg” oder „Ja, ja – früher war bestimmt alles besser.”
Ähnlich wie die heutige Auffassung von Fortschritt gehen auch Sätze dieser Art am Kern der Sache vorbei. Es geht nicht darum, das früher alles besser war. Denn das ist natürlich vollkommener Blödsinn.
Ich persönlich bin jedenfalls für schmerzlose Zahnarztbehandlungen im 21. Jahrhundert sehr dankbar. Vor zweihundert Jahren hätte man mich mit einer halben Flasche Whisky und einem Holzhammer betäubt. Und der Zahnarzt wäre vermutlich der örtliche Schmied gewesen und hätte sich vor der Operation nicht die Hände gewaschen.

Nicht alles war früher besser. Aber heute ist es das auch nicht.

Aber natürlich hilft dieses Abbügeln, sich nicht weiter mit dem eigentlichen Inhalt von berechtigter Kritik am blinden Fortschrittsglauben auseinandersetzen zu müssen.
Die Tatsache, daß neuere Dinge automatisch auch besser sein müssen, ist eben in den meisten Köpfen sehr tief verankert und kein Gegenstand von Diskussionen.
Völlig entrüstet weisen viele Menschen auch nur die theoretische Möglichkeit zurück, daß etwas, was vor Jahren – möglicherweise vor der eigenen Geburt – als Methode angewendet worden ist, in irgendeiner Form fortschrittlicher oder sogar innovativer gewesen sein könnte als die aktuelle Methode.
Derartige Behauptungen gelten in unserer Zeit geradezu als Häresie und die Gläubigen des Fortschritts und der Innovation reagieren entsprechend.
Aber was ist das eigentlich tatsächlich, diese Innovation?

Wo ist das aufregend Neue denn im 21. Jahrhundert, immerhin gehen wir stark auf 2020 zu. Für jemanden wie mich bedeutet das, daß ich immer noch mehr Zeit im 20. Jahrhundert verbracht habe als im aktuellen. Wo sind die ganzen Science-Fiction-Dinger, mit denen ich aufgewachsen bin? Wo zum Teufel sind die überlichtschnellen Raumschiffe und die Fusionskraftwerke? *

Kurz nachdem meine Uroma geboren wurde, erfanden Menschen das Fliegen. In den Dünen von Kitty Hawk in North Carolina schafften zwei selbstgelernte Fahrradmechaniker, was vorher niemandem gelungen war. Sie flogen mit einem Flugzeug schwerer als Luft, steuerbar und mit eigenem Antrieb.
Dieses Wunder der Technik wurde erst dadurch möglich, daß ein anderer Mann einige Jahre vorher eben den Verbrennungsmotor entwickelt hatte. Ein Motorflug mit einer Dampfmaschine ist schlicht nicht möglich, weil das Verhältnis von Leistung zu Gewicht hier einfach viel schlechter ist.
So etwas wie ein Passagierflugzeug wäre unmöglich mit Dampfkraft zu realisieren. In dem Moment, als der „Flyer 1″ in Kitty Hawk den Boden verließ und zum ersten echten Flug in der Menschheitsgeschichte aufbrach – der schließlich ungefähr 300 Meter lang werden sollte – dachte kein Mensch an so etwas wie Passagierflugzeuge, die nur ein halbes Jahrhundert später hunderte Personen über den Atlantik tragen würden, in mehreren Kilometern Höhe.
Ohne Verbrennungsmotor würden Menschen heute womöglich noch mit Luftschiffen reisen, denn diese Riesen wären groß genug, um ihre Propeller auch mit einer leichtgewichtigen Dampfmaschine zu betreiben. Außerdem sind sie natürlich leichter als Luft.

Das Telegramm vom 17. Dezember 1903, mit dem Orville Wright seinem Vater den ersten erfolgreichen Motorflug der Menschheitsgeschichte meldete, der ihm und seinem Bruder gelungen war. Der Hinweis, die Presse zu informieren, zeigt ganz deutlich, daß die beiden Brüder wußten, welche Bedeutung ihr Erfolg hatte.
QUELLE

Überhaupt war das 20. Jahrhundert voll mit dem, was man heute so unter Innovation verortet.
Nachdem man in den USA den Kontinent mit Telegrafendrähten überzogen hatte, war man dabei, riesige Kabel zwischen den Kontinenten zu verlegen, um telefonieren zu können. Von einem Kontinent zum anderen zu reden, während man einige Jahre zuvor noch arge Probleme gehabt hatte, von einem Haus zum anderen zu reden – derartige Projekte müssen den Zeitgenossen enorm vorgekommen sein. Was sie durchaus auch waren. Und ich bin mir sicher, daß wiederum andere Zeitgenossen die Kosten dieser Projekte als lächerlich hoch und die Projekte selber als vollkommen sinnlos betrachtet haben.

Das erste Transatlantikkabel TAT-1, das meines Wissens noch heute seinen Dienst verrichtet, ging allerdings erst 1956 in Betrieb, das ist also noch gar nicht so lange her, gerade mal knappe 60 Jahre, da war das 20. Jahrhundert schon ein bißchen grau in den Haaren.
Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Telefongespräche über den Atlantik als Funkferngespräch mit Langwelle geführt und zwar seit 1927. Damals gab es etwa 2000 solcher Interkontinentalgespräche pro Jahr zum Preis von 3 britischen Pfund – pro Minute. Nach heutiger Währung entspricht das ungefähr einem kleinen Barren Gold und einem Finger des Telefonierenden, damit war transatlantisches Telefonieren also etwa so teuer wie heutige Datendienste auf einem Pad oder Smartphone, die ja ebenfalls mit mehreren Kilogramm Gold aufgewogen werden müssen.

Das bis dahin einzig andere Kabelsystem unter dem Ozean entstammte dem Jahr 1866 und war ein Telegrafenkabel. Komplette Gespräche waren hier also nicht möglich, man mußte sich hier mit dem Rhythmus des Morse-Codes begnügen, was aber zur Übertragung einer erheblichen Menge an Information ausreichend war. Das Internet des 19. Jahrhunderts, das ja auch die Wrights benutzt haben, bestand aus Telegrafendrähten.

Auch eine andere Entwicklung stammt in ihren Ursprüngen aus dem 19. Jahrhundert, nämlich das Fernsehen.
Ein Mann namens Paul Nipkow erfand 1883 das elektrische Teleskop. Dieses Ding enthielt eine rotierende Scheibe, auf der spiralförmig Löcher angelegt waren. Was komisch klingt, ermöglichte es Nipkow, Bilder in Hell-Dunkel-Signale zu zerlegen und dieses Bild auch wieder zusammenzusetzen. Die Grundlage des Fernsehens war gefunden.
Schon fast ein halbes Jahrhundert vorher, 1843, hatte ein Mann namens Alexander Bain etwas erfunden, was er Kopiertelegrafen nannte. Eine Möglichkeit, mit Hilfe elektrischer Signale eine Kopie von Zeichnungen und Grafiken zu übertragen. Die Idee dahinter ist im Grund simpel: Jedes Signal ist ein schwarzer Punkt auf einer Fläche, ein anderes Signal oder eben das Fehlen eines Signals bedeutet „weißer Punkt”. Bain hatte diesen Gedanken sogar witzigerweise, bevor in Europa die Telegrafie benutzt wurde, das war nämlich erst ab 1848 der Fall.
Dieses Dingsbums, das Grafiken in Signale umwandelt, kennen wir heute immer noch, auch wenn seine Blütezeit vorbei zu sein scheint. Wir nennen das heute ein Faxgerät.
Das erste Fernsehbild wurde übrigens noch vor dem ersten Weltkrieg erzeugt, nämlich 1907, unter anderem noch unter Verwendung einer Nipkow-Scheibe.

Danach ging alles rasend schnell, zumindest muß es sich aus Sicht damaliger Weltbwohner so angefühlt haben. Im Ersten Weltkrieg waren Funkgeräte noch so groß, daß man sie auf Schlachtschiffe montieren mußte und so was wie Fernsehen war nur einigen Experten der Funktechnik überhaupt ein Begriff. Oder Science-Fiction-Autoren natürlich.
30 Jahre und noch einen Weltkrieg später hatte so ziemlich jeder nicht nur Elektrizität in seinem Haus, sondern konnte auch ein Fernsehgerät kaufen, daß man ins Wohnzimmer stellen konnte. Zumindest jeder Amerikaner, der Rest der Welt sollte kriegsbedingt noch eine Weile brauchen, bis es soweit war.

Jeder besaß plötzlich ein Auto, aus einer anderen Anwendung des 2. Weltkriegs – dem Radar – wurde ein Küchengerät, nämlich die Mikrowelle. Ein modernes Beispiel für „Schwerter zu Pflugscharen”, wenn man so will.
Raketen wurden zum Himmel gestartet, sowohl von den Amerikanern als auch von den Sowjets.
Allerdings waren die eigentlich auch ein eher mittelalter Hut. Bereits 1923 hatte die Universität Heidelberg eine Dissertation abgelehnt, die den etwas sperrigen Titel „Mit der Rakete zu den Planetenräumen” trug.
Der Schreiber, ein gewisser Hermann Oberth, ließ sich davon nicht abhalten und veröffentlichte sein Werk als normales Buch, heute ein Welterfolg der Technikgeschichte. Nimm dies, Universität!
Robert Goddard testete 1926 in den USA eine Rakete mit Flüssigtreibstoff. Traurige Berühmtheit erlangte die Raketentechnik dann im 2. Weltkrieg in Form von Hitlers V2-Waffe.
Und all diese Arbeiten beruhen wiederum auf der Raketengleichung von Konstantin Ziolkowski von 1903. Ein Mann, der aufgrund seines Lebenswerks heute auch als „Vater der Raumfahrt” bezeichnet wird und das meiner Ansicht nach völlig zu Recht. Ziolkowski hatte sich übrigens von SF-Autoren wie Jules Verne dazu inspirieren lassen, selber Geschichten mit technologischem Hintergrund zu schreiben, die sich dann zu wissenschaftlichen Essays über interplanetare Raumfahrt weiterentwickelten. Schon 1895 schlug dieser Mann den Bau eines Weltraumlifts vor und war damit seiner Zeit weit voraus.

1960 wurde dann eine weitere SF-Sache Realität. Theodore Maiman erfand den Laser, eine Entwicklung, die ein H.G. Wells sicher begrüßt hätte. Ein Albert Einstein vermutlich auch, der zu diesem Zeitpunkt aber bereits 5 Jahre tot war. Seine Arbeit von 1916 postuliert nämlich erstmals die „stimulierte Emission von Licht” (Albert Einstein, Zur Theorie der Strahlung,  Mitteilungen der Physikalischen Gesellschaft Zürich Nr. 18, 1916). Übrigens ein Effekt aus der Quantenmechanik, der Einstein zeit seines Lebens ja eher skeptisch gegenüberstand.

Witzigerweise wurde Maimans erste Veröffentlichung nach der Konstruktion seines Lasers vom berufenen Fachmagazin Science abgelehnt, er mußte sich eine andere Zeitschrift suchen. Und kaum war dann alles wissenschaftlich veröffentlicht, nannte jemand den Laser „eine Lösung, die ein Problem sucht”, denn irgendwie konnte sich keiner so recht vorstellen, was man mit diesem Ding anfangen sollte.
Aus der heutigen Sicht, geprägt von Glasfaser-Datenleitungen, CD-ROM und DVD-Laufwerken, Laserlicht in Autoscheinwerfern, Operationen von Augenfehlern mit Hilfe ultrakurzer Laserblitze und einer auch sonst riesigen Palette von Anwendungen, erscheint diese Beurteilung eindeutig als Fehleinschätzung.
Ohne Laserscanner an der Kasse im Supermarkt würde alles wieder etwas länger dauern und die gesamte moderne Logistik würde ohne laserlesbare Barcodes schlicht und einfach nicht existieren.
Der Laser gilt heute als eine der bedeutendsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Innovation ist – wie Fortschritt – eben auch immer eine Frage der Zeit.

Innovation ist etwas, das Zeit benötigt. Nicht immer ist etwas Neues auch sofort nützlich.

Man stelle sich heute mal einen ordentlichen SF-Finsterling ohne Laserwaffe vor. Darth Vader müßte mit einem Geister-Jedischwert rumfuchteln, was sicherlich auch cool wäre, aber eben nicht so cool wie ein Lichtschwert.
Keine ordentliche Alienrasse, die was auf sich hält, würde einen Hinterwäldler-Planeten wie die Erde überfallen, ohne dabei mit Laserwummen ordentlich Rabatz zu machen.
Selbst die Enterprise hätte keine Phaserwaffen gehabt, um den Feinden der Föderation ordentlich die Schilde einzuheizen. Und ein US-Präsident wie Ronald Reagan hätte niemals seinen fellow Americans 50 Milliarden Dollar für ein Programm namens SDI aus der Tasche ziehen können, damit die Rüstungsindustrie weiter Koks und Nutten bestellen kann.

Aber wenn es doch soviel Innovation gibt, warum sollte die dann eine Lüge sein, wie ich anfangs behauptet habe?

Nun ja, in gewisser Weise hat Innovation heute ein Problem.
Man könnte jederzeit mit dem Opa oder sogar Uropa durch die eigene Wohnung gehen und es gäbe nicht besonders viel, worüber der alte Herr sich wundern würde.
Gut, elektrisches Licht und ein eigenes Bad im Haus wären vielleicht luxuriös, aber nicht zwingend neu.
Das Telefon oder der Staubsauger wären auch nichts, was Uropa vom Sockel hauen würde, wenn er so um 1900 geboren ist. Auch Flugzeuge fände er sicherlich beeindruckend, schon aufgrund der Tatsache, daß die ja in der modernen Version keine Propeller mehr haben, viel größer sind und viel mehr Krach machen. Aber ganz neu wäre auch das nicht für ihn. Die Wahrscheinlichkeit, daß Uropa als Kind Raketen oder Flugzeuge als Modell zusammengebastelt hat, wäre sogar sehr hoch.
Selbst Fernsehen wäre nicht wirklich neu, ebensowenig wie Raketentechnologie. Wenn Uropa in London gelebt hat, hätte er davon womöglich schon genug gesehen in seinen jüngeren Tagen.
Gefühlt etwa 95 Prozent aller heute uns umgebenden technologischen Elektrik-Tricks basieren auf Erkenntnissen, die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufwärts zusammengetragen und seitdem verfeinert worden sind.
Alles, was wir heute unter „Elektrotechnik” zusammenfassen, vom Festnetztelefon über das normale Licht im Zimmer, gespeist aus einem Wechselstromnetz, bis hin zum Computer, auf dem ich dies schreibe, beruht auf den Gleichungen von James Clerk Maxwell. Auch scheinbar hochmoderne Dinge wie Raketen für Raumsonden oder Lasertechnik basieren auf Denkvorgängen, die schon eine ganze Weile zurückliegen.

So unglaublich das für Menschen unter 30 heute vielleicht klingen mag: Apple hat weder das Telefon erfunden noch den digitalen Walkman. Selbst der Computer ist keine Erfindung von Apple oder Microsoft. Unser Fernseher mag heute endlich mal 3D-fähig sein, genau wie das Kino, aber das gab es auch schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Selbst das allgegenwärtige Smartphone, das für sehr viele Menschen in einer Art Symbolik, die ich sehr amüsant finde, das Brett vor dem Kopf ersetzt hat, ist nichts weiter als…..ein Telefon.
Natürlich werden jetzt alle Besitzer irgendeiner sinnlos teuren Kiste wie dem iPhone23 lauthals „Blasphemie!” schreien und per Gebets-App zum Großen Steve um die Erlösung meiner Ketzerseele vom Bösen bitten, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Städte und Treffpunkte in ihnen gab es schon vor Google Maps.

In Wirklichkeit sind Menschen gar nicht so innovativ.
Selbst ein Smartphone ist nur dann besonders „smart”, wenn sein Benutzer mittelmäßig verblödet ist und nicht weiß, daß die Sprachassistentin Siri auf diverse Fragen nur halbwegs sinnvolle Antworten gibt, weil sie im Hintergrund mit mehreren Datenbanken verbunden ist, die der mehrfachen Größe der Bibliothek von Alexandria multipliziert mit der Kongressbibliothek der USA entsprechen.
Ablesen ist nicht smart, das ist gecheatet. Klar kann man seine Hausaufgaben heutzutage mit Wikipedia erledigen, aber erstens sind Lehrer auch nicht völlig blöde und zweitens ist das eben abgeschrieben und nicht selber gedacht.

Natürlich sind Menschen andererseits doch wieder sehr innovativ, denn irgendwer muß ja aus einer quantenphysikalischen Gleichung von Einstein ein Lichtschwert für Darth Vader oder Meister Yoda basteln. Nicht einfach das ist.

Es muß erst einer den Transistor erfinden, bevor aus riesigen halbmechanischen Röhrenkisten, die mit Lochkarten gefüttert werden, so etwas wie der moderne PC werden kann mit 4 CPU-Kernen, 16 Gigabyte RAM und einer Kapazität, mit die Jungs von der NASA 1969 vermutlich bis zum nächsten Sonnensystem hätten fliegen können. Tatsächlich wäre mein nicht wirklich aktuelles Computermodell auf dem Schreibtisch vor 20 Jahren ein sehr heißer Kandidat auf einen Spitzenplatz in der Supercomputerliste gewesen.

Ähnlich wie mit dem Fortschritt ist es in unserer Gesellschaft mit seiner kleinen Schwester, der Innovation. Innovation ist heute genauso wie ihr großer Bruder in den Fängen eines Wirtschaftssystems gelandet, das längere Denkarbeit nicht mehr besonders unterstützenswert zu finden scheint.
Innovation findet noch immer statt, aber wir haben verlernt, ihren Wert zu schätzen. Alle fragen immer nach einem Verwendungszweck.
Die Frage, die der Durchschnittsmensch stellt, wenn mal wieder jemand was Erstaunliches im Labor ausgefuchst hat, läuft immer hinaus auf ein „Inwiefern ist das für mich jetzt sofort nützlich?”
Dieses Denken haben wir kritiklos von den jeweiligen Firmen übernommen, die heutzutage üblicherweise als Sponsoren der Forschung auftreten.

Einstein wäre heute ein unterbezahlter Physikprofessor im Patentamt und das zwei Fahrradmechaniker etwas erfinden, das fliegen kann, würde man für völlig absurd halten in einer Vorstandssitzung und den Gebrüdern Wright den dringenden Rat geben, weitere Filialen zu gründen, um ihr Unternehmen in einer Branche expandieren zu lassen, von der sie etwas verstehen. Wie erwähnt, waren die beiden Herren Fahrradmechaniker.
Pharmafirmen schlagen sich immer wieder auf die breite Brust und verweisen auf ihre enormen Forschungs- und Entwicklungskosten. Die gibt es natürlich durchaus, aber es ist kein Geheimnis, daß massenhaft „neue” Medikamente nur deshalb auf den Markt gebracht werden, um neuen Patentschutz – und damit massive Profite – zu generieren.

Die unbedingte Bilanzierbarkeit von Kreativität ist der Tod echter Innovation.

Einer meiner persönlichen größten Helden ist ein Herr namens Albert Sabin.
Er ist der Entwickler des verbesserten Impfstoffes gegen Polio, also Kinderlähmung, die meine Generation als Schluckimpfung kennengelernt hat. Sabin baute auf der Arbeit zweier Kollegen auf, auch er war also nicht allein.
In einem Interview wurde ihm Ende der 60er einmal die Frage gestellt, warum er sich seinen Impfstoff nicht habe patentieren lassen. Sabins Antwort war, daß seine Forschung für den PHS (Public Health Service) erfolgt sei, also von öffentlichen Geldern finanziert war, und er deshalb der Meinung sei, seine Erfindung gehöre auch der Allgemeinheit und nicht ihm.
Für eine derartige Aussage würden die heutigen Pharmafirmen ihre Forscher vermutlich kreuzigen oder sie in den USA des Sozialismus verdächtigen, da bin ich mir sicher.

In unserer modernen Zeit ist Innovation also auch gleichbedeutend mit einem Produkt irgendeiner Art, das wirtschaftlich verwertbar sein muß. Der reine Gedanke, das „Heureka” eines Archimedes, genügt heute nicht mehr.
Archimedes müßte heute schon einen Businessplan vorlegen, um mit seinem Gedanken landen zu können. Ob dieser Businessplan dann die Produktion von Gummienten für die Badewanne vorsieht oder die einer Flotte aus Metallschiffen für den gerade aktuellen Herrscher, spielt dabei weniger eine Rolle. Hauptsache, da springt Profit raus.
Wir haben den Wert des Gedankens durch den materiellen Wert der Bilanzsumme ersetzt. Dabei gerät völlig in den Hintergrund, daß eben erst das eine da sein muß, bevor sich das andere ergeben kann. Was manchmal noch 10 oder 20 Jahre dauern kann. Manchmal vielleicht auch ein halbes Jahrhundert.

„Innovare” bedeutet, Neues zu denken. Manchmal bedeutet es, scheinbar altbekannte Dinge in eine Form zu bringen, die es vorher nicht gab, ein neues Gesamtkonzept zu erbauen aus alten Puzzlestücken. Eine Veränderung der Perspektive.

Unsere heutige Wirtschaftsform hat sich von dieser ursprünglichen Bedeutung der Innovation weitgehend verabschiedet. Die Lüge des Fortschritts verbindet sich mit einer Krise der Innovation zu etwas, das für die Menschheit mehr und mehr zu einer Belastung geworden ist und noch werden wird.

 

*Mit meinem Wunsch nach FTL-Schiffen bin ich natürlich selbst Opfer der Zukunft, wie sie nicht sein wird. Ich will die Zukunft, die man sich erwünscht und erträumt. Aber die kommt nicht, das hatte ich ja bereits angemerkt. Allerdings wünsche ich mir heute auch keine FTL-Schiffe mehr. Manchmal ist erwachsen werden doch scheiße.

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